Kapitel 6

1K 8 8
                                    

Ich höre nicht anderes, als mein hämmerndes Herz. Zu atmen wage ich es nicht, schnappe jedoch tief nach Luft, als vor meinen Augen schwarze Flecken auftauchen. Was war das? Ein Mensch wohl kaum. Ich kann mich nicht an das Gesicht erinnern, doch es war wunderschön. Und furchteinflößend. So, so böse. Vorläufig belasse ich es wohl besser bei einer Halluzination – doch dieser Windstoß, das plötzliche Auftauchen und Verschwinden; dieser schmerzende Schrei. Ich habe keine Kraft mehr, mich Oben zu halten. Mit einem Ruck lande ich auf der kalten, feuchten Straße und kauere mich zusammen. Alles ist still. In keinem der Häuser brennt ein Licht, von nirgends her ertönen Stimmen. Ich bin absolut allein. Wollte ich das denn nicht? Nicht unter diesen Umständen. Ich spüre mein Handy unter meiner Hand. Wann hatte ich es hervorgeholt? Automatisch tippen meine Finger eine Telefonnummer ein. Ich muss mit jemandem sprechen, und er ist genau der richtige dafür. Es piept drei mal, als es dann schließlich ‘klick’ macht und eine raue, warme Stimme ertönt:”Hallo?” Ich sinke in mich hinein und atme erleichtert auf. Mein Herz beruhigt sich. “Hallo.”flüstere ich und mache mir keine Gedanken darüber, dass das eine nicht gerade besonders kreative Antwort war. Meine Gedanken klären sich. Es entsteht eine Pause, in der das einzige was ich hören kann, sein und mein Atem ist. Schließlich beginnt er:”Tara? Tara, Schwester, bist du das?” Ich höre ein rascheln und ein knipsen. Vermutlich hat er gerade das Licht eingeschaltet, um sicher zu gehen, dass er nicht träumt. Was soll ich antworten? Mein Mund öffnet sich, doch ich bringe keinen Ton raus. Ein tiefes Seufzen dringt zu mir rüber. “Ich-“, beginnt er, zur selben Zeit wie ich. Wir beide lachen. Seine Stimme ist so wohltuend. Wie Balsam für meine Seele. “Du zuerst.”, ich muss grinsen.

”Wie kannst du es wagen, mich mitten in der Nacht zu wecken?”, fragt er mit hoffentlich gespielt entsetzter Stimme.

”Es ist nicht mehr Nacht, viel eher früh morgens!”, kontere ich und beginne, mich zu entspannen. Ich habe Laurent angerufen, meinen Bruder. Er ist der einzige, der mich schon fast mein ganzes Leben kennt und trotz allem zu mir steht, schon immer. Genetisch ist er nicht mein Bruder, Mutter fand ihn eines Nachts vor der Haustür und nahm ihn auf. Ein Zettel war beigelegt mit einigen Informationen: Laurent, 5 Wochen, Franzose. Von da an lebte er bei uns; ich mit meinen knapp zwei Jahren war froh, ein kleines Brüderchen zu bekommen. Auch wenn mir kaum einer glauben wollte, dass er mein ‘Bruder’ ist. “Nun, erzähl. Warum rufst du mich nach all der Zeit an?” möchte er wissen. Wie könnte ich ihm das verübeln – es ist bestimmt zwei Jahre her, als ich mich zuletzt bei ihm meldete. Keine Ahnung, warum. Doch ich habe ein wahnsinnig schlechtes Gewissen deswegen. “Es tut mir leid. Vielleicht finden wir eine Lösung, wenn wir Donnerstag rüber kommen, dann-“

“WAS ist mit Donnerstag?!” Oh. Genau. Ich habe zwei Jahre lang nicht mehr mit ihm geredet; er weiß nichts von meinen Plänen, rüber zu kommen.

“Saskia, meine beste Freundin, und ich haben spontan beschlossen, für eine Weile zu dir zu kommen, weil … naja. Ich erklär es dir, wenn wir bei dir sind. Ich dachte mir, dass wir bei dir übernachten können, wenn es dir keine Umstände macht.”

”Was redest du da?! Bleibt für immer! Du stellst fragen. Ist denn etwas passiert? Oder vermisst du einfach deinen wundervollen, schönen, charmanten ….”

”… und eingebildeten Bruder? Ja, vielleicht.”

”Pf. Fräulein, pass auf, was du sagst. Oder ihr schlaft in der Hundehütte.”

Aus meinem kichern wird ein lautloses ‘Nein’. Schonwieder beginnt dieser Wind. Diesmal jedoch viel eisiger. Ich ziehe scharf die Luft ein.

”Hallo? Wer auch immer du bist, lass mich in Ruhe! Hörst du mich? Lass. Mich. In. Ruhe!” Doch es wird schlimmer. Die Blätter über mir fallen in Strömen auf mich hinab. Die Wolken ziehen sich zusammen, ein Blitz fährt über den Himmel. Laute Donnerschläge lassen mich zusammenzucken.

”Tara? Was ist los? Was ist das? Tara?! Tara!” Unvorhersehbar wird das Telefonat beendet.

Nala:

Unerträglich. Vernichtend. Schmerzhaft. Unbeschreiblich. Ihr Licht durchdringt mich. So, so schmerzhaft. Zu gut, sie ist durch und durch gut. Warum sie? Jede andere, aber warum sie? Ihre schwarze Mähne wird durch meinen kleinen Wirbelsturm zerzaust, es fliegt in alle möglichen Richtungen. Nahezu wie ein Löwe sieht sie aus. Ein wunderschöner Löwe, zum verlieben schön, und unantastbar. Warum muss sie der gute Engel sein? Warum muss ich der böse Engel sein? Warum muss überhaupt ich sie aufklären? Haben sie gewusst, dass es mir Qualen bereiten würde?

Ich versuche, alles abzuschalten. Die Gefühle. Und konzentriere mich auf das Wesentliche. Mein für sie durchsichtiger Körper umkreist sie. Hätte ich ein noch funktionierendes Herz, wäre es jetzt stillgestanden. Beinahe hätte sie mich berührt, wie vorhin schon. Dann wäre mir ein furchteinflößender, von Schmerz durchzogener, Schrei entfahren und sie hätte meine Gestalt erkennen können. Gott sei Dank, hatte sie beim letzten Mal zu viel Angst, um genug zu erkennen. Ein weiterer Blitz entsteht durch meine Kraft. Sie tut mir Leid. So allein, in einer Fremden Umgebung, niemand kann ihr zur Hilfe kommen … Nein. Halt. Ich darf keinen Mitleid mit ihr haben. Sie ist es. Ich weiß es, ich bin mir sicher. Aber ich habe trotzdem noch Gefühl. Und da sie Wohl oder Übel der Ohnmacht nahe ist, bringe ich sie besser Heim. Mit einem kurzen, gewispertem Wort meinerseits fällt sie in eine Trance. Meine Gestalt wandelt sich äußerlich in einen Menschen, ich werde für alle sichtbar. Doch so kann ich sie zurückbringen, um sie schlussendlich in Sicherheit zu wiegen. Auch wenn es falsch ist. Mit einer Leichtigkeit hebe ich sie sanft auf meine Arme und trage sie durch die Gässchen Londons, atme ihren Duft, genieße ihre abwesende Anwesenheit, frage mich, wie sie wohl klingt, wie sie lacht, wie ihre Augen vor Begeisterung funkeln … Wie verängstigt sie mich ansehen wird, sobald sie es weiß.

Leise trete ich in das Haus ein. Niemand ist zu Hause. Sie wird sich bestimmt nicht freuen, wenn sie das bemerkt. Die Dielenbrette unter mir knarren als ich sie zu ihrem Bett trage und sie dort ablege. Automatisch streicht meine Hand sanft über ihre Wangen. Zu ihrem Pech, kommt sie bald zu uns. Nach Afrika. Und dann, dann wird sie es erfahren. Bald, meine Liebe, bald. Genieße die Zeit der Ungewissheit, du wirst sie vermissen. Mit einem letzten Luftzug verlasse ich die Gasse, das Dorf, London, England – Sie. Vorläufig.

Tahara:

Liebes Tagebuch,

Ich habe keine Ahnung, was genau eben geschehen ist. Ich weiß, dass ich raus bin nach unserem Streit. Dort war irgendeine Gestalt … etwas unmenschliches. Aber was genau? Dann hab ich Laurent angerufen. Plötzlich war die Verbindung weg, es herrschte eine merkwürdige Stimmung – Und dann lag ich zu Hause im Bett. Etwas gewaltiges geschieht, da bin ich mir sicher.

Tahara Cordialité

Schweren Schrittes stehe ich von meinem Bett auf. Keine Spur von Dave. Die langen Vorhänge wehen gespenstisch, der kühle Wind lässt mich zittern. Ich schließe die massiven Balkontüren, doch dann bemerke ich etwas. Als ich das Haus verließ, waren die Türen geschlossen. Dave hatte sie gewiss nicht geöffnet, er mag es nicht, wenn ‘all die verpestete Luft reinkommt’. Doch jetzt, jetzt sind sie sperrangelweit geöffnet. Jemand war hier. Und dieser Jemand hat auch mit dem seltsamen Ereignis zutun. Augenblicklich stellen sich meine Haare zu Berge. Ich fühle mich beobachtet, als wäre ich in Gefahr. Was für ein Unsinn! Nein, es ist nichts geschehen. Es hat einfach so stark gewindet, dass die Türen sich von allein geöffnet haben. Oder so. Genau, so muss es gewesen sein. Immer wieder rede ich es mir ein, aber natürlich: Es klappt nicht. Mein eigener Schatten verängstigt mich, während ich durch das Haus schreite, auf der Suche nach Dave. Aber er ist nirgends in Sicht. Nicht im Arbeitszimmer, nicht in der Küche, nicht im Bad, selbst nicht im Wohnzimmer. Einfach nirgends. Ich will gar nicht wissen, was er gerade treibt. Soll er doch gestohlen bleiben.

In der folgenden Nacht finde ich kaum Schlaf.

_____

Mögt ihr es? Was meint ihr zu Nala? Die nächsten zwei Kapitel sind schon in Arbeit - bald fertig! :) 

Torn - Zwei Welten, Zwei LiebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt