Kapitel 1 - Willkommen auf Tyche

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„Ahhhhhh" ein lauter Schrei, dem hörbar ein penetranter Schmerz zugrunde liegen muss, erfüllt an diesem warmen Morgen die schwüle Luft. Ein weiterer Schmerzensschrei – definitiv eine weibliche Stimme - folgt unmittelbar dem Ersten und beendet jäh die friedliche Stille, die nur durch das monotone Klappern des Wasserrades begleitet wird. Ein gedämpftes Licht sucht sich beharrlich seinen Weg durch die sich im Auflösen inbegriffenen Nebelschleier inmitten einer üppigen Vegetation, die hier auf der Anhöhe - der aktuellen Heimat der letzten Menschen - herrscht. 

Wir befinden uns inzwischen in der Sternzeit 02.01.01 aE nach der neuen Zeitrechnung – 1 Jahr und 2 Tage nach der totalen Zerstörung der Erde durch den Asteroiden Hargendoid 5.89 und die überlebenden Menschen befinden sich nun beinahe schon 11 Monate auf Tyche. Der irdische Tag- Nacht- Rhythmus wurde schon aus Gewohnheit aufrechterhalten, auch wenn die Tage auf Tyche durch die Rotation um seine eigene Achse etwa viermal länger dauern, nämlich ziemlich exakt 96 Erdenstunden. Dieser Rhythmus ist allerdings weniger durch die weit entfernte Sonne als vielmehr durch die fluoreszierenden Elemente in der Eisschicht des Planeten geprägt, sodass die Tage nicht auffallend hell und die Nächte nicht sonderlich finster sind.

Lilly wendet ihren Blick Michelle zu und sagt mit einem milden Lächeln auf ihren Lippen. „Das klingt nach Sophie - ich glaube, jetzt geht es los."

„Mein Gott ja!" antwortet Michelle und kreist unbewusst mit ihren Händen ihren wohlgeformten Bauch - ein untrügliches Zeichen, dass sie schwanger ist. „Hoffentlich geht die Geburt auch so schnell und problemlos über die Bühne wie bei dir" fährt Michelle fort. Sie hat zwar keine wirkliche Angst vor der Entbindung, aber in Anbetracht der gehörten Schreie macht sich doch ein gewisses Unbehagen bemerkbar.

„Das wünsch ich Sophie auch" stellt Lilly von Herzen fest und ersucht im gleichen Atemzug Michelle. „Bleibst du bitte solange bei Sam, während ich Sophie bei der Geburt unterstütze?"

Sam ist nun schon 10 Wochen alt, der Sohn von Lilly und Nigel und hier auf Tyche geboren Er liegt in einer selbstgebauten Wiege und schläft den unschuldigen Schlaf eines neugeborenen Kindes.

„Aber sicher, ich bleibe währenddessen bei Sam" entgegnet Michelle und setzt sich mühevoll auf einen bequemen Stuhl, den Nigel vor einigen Wochen Lilly zum besseren Stillen aus Lianen und anderen elastischen Ästen und Zweigen angefertigt hat. Michelle fühlt sich müde und erschöpft und ist daher froh, sich setzen zu können. Ihr Entbindungstermin ist vermutlich in einigen Tagen und sie ist froh, dass damit diese beschwerlich verlaufene Schwangerschaft endlich vorbei ist und sie sich wieder normal bewegen kann. Michelle wirft noch einen kurzen, vernarrten Blick auf den süßen, schlafenden Jungen in der Wiege, schließt anschließend ihre Augen und schläft sofort ein.

Während Lilly den zentralen Platz im Dorf zum großen Gebäude gegenüber ihrem Haus überquert, nähert sich ein seltsames Wesen durch das lange Gras bedächtig der Krippe. Es hat in etwa die Größe eines kleinen Terriers, allerdings sechs Beine und Haare, wohin man schaut. Es ist daher absolut nicht festzustellen, wo sich der Kopf bzw. vorne oder hinten befindet. Das Wesen schleicht sich um die Hausecke und krabbelt unter die Krippe, wobei der Gang irgendwie an eine Spinne erinnert, die sich mit ihren behaarten Beinen langsam aber sicher fortbewegt. Völlig geräuschlos kraxelt das seltsame Wesen die Füße der Krippe hinauf und lässt sich mit einem bizarren Schnurren zu Sam in die Wiege fallen.

Auch Harry hat die Schreie seiner Sophie deutlich vernommen. Sie waren kaum zu überhören, auch wenn er in einiger Entfernung gerade mit dem Anbau eines neu entwickelten Saatgutes beschäftigt war. Dieses Gebiet hier unten am Fluss wurde von ihnen mit viel Mühe urbar gemacht und versorgt damit die Menschen vorwiegend mit exotischen Früchten, Beeren und anderen Lebensmitteln. Es wird von der Anhöhe, wo sich ihre Niederlassung befindet, durch einen künstlichen Kanal getrennt, wo ein kontinuierlich sich drehendes Wasserrad einerseits für Trinkwasser und andererseits für ihre Stromerzeugung sorgt.

Der Kampf der letzten MenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt