13. Von Menschenkenntnissen und Grundgesetzen

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"Okay, ich erzähle es dir".
Ben kniete sich neben die Farben und öffnete bestimmte Töpfe, während er zu reden begann. "Du willst den Himmel malen, hab ich Recht?" Ich nickte, ehrlich beeindruckt von dem Wissen, über das er eigentlich gar nicht verfügen sollte."Woher weißt du das nun schon wieder?" Ben kicherte, öffnete das Angoraweiß und begann, mit einem langen Pinsel die Schichten der Farbe, die sich getrennt abgesetzt hatten, wieder zu einer homogenen Masse zu verrühren."Ehrlich gesagt war das geraten", antwortete er und legte den Pinsel zur Seite, "aber anscheinend hab ich ja ins Schwarze getroffen. Ich meine, ich hätte diese himmelblaue Wand vermutlich mit Wolken bemalt, wenn ich du wäre und da lag es nahe, dass du das auch machst."

Irgendwie war diese Erklärung nicht plausibel genug, als das er sich seiner Sache so sicher sein konnte.
"Und?", fragte ich erwartungsvoll, als mir auffiel, dass ich als hässliche Statue von einem verkorksten Künstler, die nutzlos herumstand und nichts tat, nicht unbedingt nützlich war, geschweige denn zum Betrachten einlud.
Schnell ließ ich mich auf meine Knie fallen und robbte neben Ben, der mittlerweile ein anderes Blau geöffnet hatte.

"Was meinst du mit und?", erwiderte er auf meine Frage, während er mich von der Seite ansah.
"Du kannst mir nicht erzählen, dass du wegen einer so vagen Vermutung so aufgesprungen bist und herumgetanzt hast. Außerdem kannst du mich noch gar nicht so gut kennen, sodass du all meine irrwitzigen Gedankengänge erraten kannst. Das schafft niemand."

Eine kleine Stimme in meinem Kopf kreischte mir unaufhörlich 'Mein Zeichenblock! Mein Zeichenblock! Ich wette mit mir, er hat ihn doch angeguckt! Haha, ich Loser!' zu, doch ich ignorierte sie einfach weitergehend, ungeachtet des leider ziemlich offensichtlichen Wissens von Seiten Bens über mich. Das wollte, konnte und würde ich nicht glauben, bis er es selbst zugegeben hatte.
Es müsste ja auch nicht zwingend der Fall sein. Es könnte viel unspektakulärer sein. Er könnte mich zum Beispiel deshalb so gut kennen, weil er mich als Spion schon seit meiner Geburt verfolgte und beobachtete. Oder weil er übermenschliche Fähigkeiten hatte, mit denen er meine Gedanken lesen konnte. Oder weil er für eine Organisation arbeitete, die aus Jugendlichen Auftragskiller machte und sich ihre Opfer, in seinem Fall ich, aussuchte. Alles weit weniger beunruhigend als die Theorie, dass er meinen Block gesehen hatte.

Aber vielleicht machte ich einfach einen zu großen Hehl um einen Satz. Es war doch nur ein Motiv, das man auf eine Wand malte.
Nicht der Rede wert und definitiv auch nicht so bedeutend, dass ich deswegen jemanden mit meiner Neugierde und Fragerei vergraulen wollte. Was ich hoffentlich noch nicht getan hatte.
Keine unnötigen Fragen mehr, schwor ich mir, halt bei Themen, die anderen Leuten unangenehm sind, einfach mal die Klappe und streu nicht noch mehr Salz in die Wunde.

Als ich gerade beschlossen hatte das Thema zu wechseln, um die Stille zwischen mir und Ben mit Worten zu füllen, ohne ihn dabei zu nerven, holte Ben tief Luft.
Er schien mit sich selbst zu hadern, bevor er den Mund aufmachte und dann murmelte: "Vermutlich kann ich einfach nur gut Menschen einschätzen? Oder du bist leicht zu durchschauen?".
Meine (nicht vorhandenen) Detektivsinne schrillten los. Sätze, die mit einer langen Pause eingeleitet wurden, diesem Gesichtsausdruck begannen und mit ungesagten Fragezeichen endeten waren entweder Lügen, ein Geheimnis oder beides gleichzeitig. An meinen Vorsatz, den Mund zu halten denkend, biss ich mir kräftig auf die Innenseiten meiner Wangen, um nicht wieder loszuplappern. Stattdessen zuckte ich nur mit den Schultern und nickte dann, um Ben zu signalisieren, dass er vermutlich Recht hatte.
Ja klar. Aber wenn er dann glücklicher war...
Probeweise versuchte ich mein Hirn zu einer 180-Grad-Drehung zu überreden, damit meine Nervenbahnen sich nicht ganz hoffnungslos verknoteten. Überraschenderweise schaffte ich sogar 45 Grad, was bedeutete, dass ich mir die Situation wieder etwas objektiver ansehen könnte. So, also objektiv gesehen, zweifelte ich noch immer daran, dass Ben wirklich mit mir die Wände streichen wollte, sodass ich mich schließlich doch zu einer Frage von mir hinreißen ließ. Nur zu seiner eigenen Sicherheit.
"Ben?"
"Mmh?"
"Du bist dir ganz sicher, dass du das machen willst? Jetzt ist die letzte Chance, sich aus dem Staub zu machen. Wenn du noch was anderes vorhast wie ....weiß nicht.... Gitarre spielen oder sowas, dann musst du das nur sagen. Du musst dich hier nicht mit mir herumquälen, du bist ein freier Mensch und laut der irischen Verfassung ist dir auch die Würde und Freiheit des Individuums garantiert, also wenn du dieses Recht einlösen willst-"
"Das hört sich ja fast so an, als wäre ich in einem Gefängnis, natürlich will ich bleiben", unterbrach er mich lächelnd, bevor sich plötzlich ein Schatten über sein Gesicht legte. "Hey, aber wenn ich dich nerve und du noch etwas anderes vorhast, kann ich das auch verstehen. Ich meine, ich bin hier komplett unerwartet reingeschneit uns habe nicht mal ansatzweise gefragt, ob du das willst".
Ich war mir ziemlich sicher, dass er mich bereits gefragt hatte und wenn nicht, sollte doch mindestens durch meine Antworten und meine Reaktionen klar geworden sein, wie gerne ich ihn jetzt schon hier hatte. Natürlich ganz objektiv betrachtet. Er fungierte hier nur als Maler. Nicht mehr und nicht weniger.
"Du hast ja schließlich auch das irische Grundrecht", schloss Ben mit seinem Lächeln, das wieder auf sein Gesicht zurückgekehrt war und ließ den Pinsel in irrer Geschwindigkeit über seine Hand rotieren.
Zu fasziniert davon, wie sich der Pinsel scheinbar mühelos auf seinem linken Handballen drehte, realisierte ich erst gar nicht, was er gesagt hatte, bis die Worte für mich doch einen Sinn ergaben.
"Oh, nein da hast du was falsch verstanden" Ich riss meinen Blick von seiner linken Hand los und schaute ihm ins Gesicht. "Ich komme aus Australien; das irische Grundrecht habe ich noch gar nicht. Ich glaube dafür müsste ich mindestens seit drei Monaten hier wohnen ".
Ben blinzelte zweimal ungläubig, bis sich in seinem Kopf ein Schalter umzulegen schien und er wieder begann, sein Ich-bin-Sherlock-Holmes-und-habe-soeben-bedeutungsvolle-Aspekte-zu-dem-Verbrechen-aufgedeckt-Grinsen zu lächeln.
So langsam glaubte ich, dass meine Gegenwart nicht gut für ihn war. "Du hast Recht! Aber natürlich!", rief er. Klar hatte ich Recht! Wer von uns beiden war denn umgezogen? Doch Ben ließ sich nicht von seiner Erkenntnis abbringen und begann an seinen Fingern abzuzählen. "Du bist heute zum ersten Mal an unserer Schule gewesen. Du hast einen niedlichen Akzent. Du bist ziemlich braun, was hier so gut wie unmöglich ist. Du hast australische Flaggen auf deinem Rucksack kleben. Du kannst hier erst vor kurzem eingezogen sein, weil hier vorher...weil hier vor kurzem noch jemand gewohnt hat und mehr fällt mir nicht ein." Sein Zögern und sein bedauernd schmerzlicher Gesichtsausdruck verriet mir, dass er den Jemand, der hier gewohnt hatte, sehr gut gekannt haben musste. Was auch erklären würde, warum er sich so gut in unserem Haus auskannte. Ich fragte nicht weiter nach, aber hoffte trotzdem, dass irgendwann die Zeit kommen würde, in der er mir freiwillig erzählen würde, was es mit diesen Menschen auf sich hatte.

Moment, zurückspulen.
Warum wünschte ich mir, dass er mir vertraute und seine Probleme erzählte? Das ging mich einerseits einen Dreck an und andererseits war es extrem gruselig, dass ich mich in der Zukunft neben einem Jungen sah.
Ich schüttelte meinen Kopf, um die ganzen wirren Gedanken loszuwerden und schnappte mir den Pinsel aus Bens Hand, den er gerade noch gedreht hatte. "Ich mag zwar Australierin sein, aber auch bei uns gilt die Würde und Freiheit des Menschen. Und mit dieser Würde befehle ich dir jetzt Spaß zu haben und meine Wand mit Fantasie zu bekleckern!"
Denn Ben sollte jetzt mein Wind sein, der meine Kreativität auf unsichtbaren Flügeln in die Unendlichkeit tragen würde.

Himmelskinder (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt