3. Ich bin 'anders'

235 28 18
                                    

Was für ein zweiter erster Schultag! Meine Lehrer hatten die Klasse nicht unter Kontrolle und ich hatte auf Anhieb Feinde gefunden.

Und ganz vielleicht möglicherweise unter Umständen mit geringer Chance hatte ich sogar Freunde entdeckt! Gut, einen Freund, aber das tut nichts zur Sache.

Ich schielte zu Ben herüber, der auf einem relativ dicken Ast saß und gedankenverloren an mir vorbei starrte.

So viel zum Thema Aufmerksamkeit. Hatte ich ihn schon in den ersten zwei Minuten unserer Bekanntschaft vergrault und er träumte gerade davon, wieder in dem karg eingerichteten Klassenzimmer von 'Lea' verprügeln wurde? Würde ich an seiner Stelle auch machen.

Ich beugte mich vorsichtig, um nicht vom Ast zu fallen und gefühlte 50 m weiter unten auf dem Waldboden aufzuschlagen, zu ihm herüber und wedelte mit der Hand vor seinen Augen herum. "Erde an Ben, bist du noch da?"

Er zuckte zusammen und musste sich festhalten, um nicht rückwärts vom Ast zu kippen. Tja, das Leben ist hart, Benny.

"W..w...was?", stammelte er während ich mich vor unterdrücktem Lachen kaum noch festhalten konnte. Er sah aus wie ein begriffsstutziges Schaf mit Gedächtnisproblemen, das gerade bemerkt hat, dass es alleine auf der Weide steht.

Ich konnte meine Belustigung nicht weiter unterdrücken und lachte laut los. In der Buche neben uns flüchteten Vögel aus ihren Nestern und zwitscherten mich vorwurfsvoll an. Reiß dich zusammen, Heaven! , dachte ich, atmete tief ein und wischte mir die Lachtränen aus den Augen.

Doch sobald ich in Bens Gesicht guckte, war es wieder um meine Selbstbeherrschung geschehen. Verwirrt, ängstlich, argwöhnisch und erschrocken gleichzeitig starrte er mich an und versuchte gleichzeitig, einen möglichst weiten Abstand zwischen ihn und mich zu bringen.

Ich kicherte immer weiter und ignorierte die Tatsache, dass ich mich gerade als verrückt und vollkommen durchgeknallt geoutet hatte.

Seine rechte Schulter zitterte wie unter großer Anstrengung, als er mir ins Gesicht schaute und eine Augenbraue hochzog. Wieso können das eigentlich alle außer mir?

Plötzlich zuckte sein rechter Mundwinkel und er biss sich verstohlen auf die Unterlippe. Haha! Er war also doch nicht so cool, wie er tat.

Immer noch lachend versuchte ich, ebenfalls eine Augenbraue hochzuziehen, ohne mich lächerlich zu machen.

Seinem Gesicht nach zu urteilen, war mir das nicht so ganz gelungen, also streckte ich Ben die Zunge raus.

Nun war es auch um ihn geschehen. Er prustete los und lachte noch lauter als ich. Und sein Lachen war ... wie ein Sonnenaufgang über den Wolken. Es kam mir so vor, als würde ich für einen kurzen Moment in seine bunt schillernde Seele gucken können, die er sonst hinter einer Maske der Schüchternheit versteckte.

Und es war so ansteckend!

Etwa 2 halbe Stunden später (okay, vielleicht waren es auch nur 10 Minuten) hatten wir uns soweit beruhigt, dass die Vögel wieder zurückkamen und ihre fröhlichen Lieder zwitscherten.

"Sag mal Ben", japste ich und wandte mich ihm zu," warum hast du mich eigentlich gerettet? Es wäre doch viel einfacher gewesen, wenn du mich da stehen gelassen hättest. Dann hättest du jetzt nämlich keine Feinde und könntest an Altersschwäche sterben. Also nicht ermordet werden."

Er grinste und lehnte sich an den Stamm der alten Eiche. "Meinst du Sweatheart? " Ich musste lächeln. Er hatte ein gutes Gedächtnis, dass muss man ihm lassen. "Sweety und ich sind sowieso schon Todfeinde. Außerdem", fuhr er fort und zupfte Blätter von den Zweigen über ihm,"hab ich das wegen dir gemacht". Wegen mir? Ich legte den Kopf schief und sah ihn fragend an.

"Naja" verlegen sah er an mir vorbei "du ...also...ich.." Wurde er etwa rot? " Ich glaube das du anders bist.", beendete er hastig seinen Satz und war auf einmal sehr mit den zerrupften Blättern in seinen Händen beschäftigt. "Anders?", hakte ich nach. Was sollte das heißen? War das ein Kompliment gewesen?

"Also ich meine nicht im Sinne von hübscher oder schlauer als andere Mädchen oder so was, sondern halt...anders als andere Menschen", fügte er leise hinzu, atmete tief durch und sah mir fest in die Augen.

Es war kein Kompliment gewesen. Es war eine Beleidigung gewesen.

Mein sogenannter erster Freund in Irland hatte mich gerade indirekt als dumm, hässlich und nicht von dieser Welt bezeichnet.

Schönen Dank auch.

Verletzt, wütend und verwirrt drehte ich mich ohne ein Wort zu sagen um und kletterte die ausladende Eiche herunter. Soll er doch sehen, wie er da runterkam.

"Heaven? Heaven warte doch!", rief er mir verdattert zu und begann seinerseits die Äste herunter zu hüpfen. "Alles in Ordnung?"

Ob alles in Ordnung ist? Denk mal scharf nach. Ich antwortete nicht und drehte mich nicht um. Diese Frage verdiente keine Antwort.

Mit einem dumpfen Aufprall landete ich auf dem grünen Waldboden und begann zu rennen. Nur weg.

Ein paar dutzend Meter weiter drehte ich mich nochmal zu Ben um, der verlassen und einsam unter der Eiche stand.

"Nochmal danke für deine Rettung!", rief ich und begann wieder zu laufen. Weiter und weiter, wohin mich meine Beine auch führen mochten.

Himmelskinder (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt