16. Sushi-Rollen und Malgedanken

103 17 20
                                    

In dieser Nacht konnte ich beim besten Willen nicht einschlafen.
Ruhelos drehte ich mich von einer Seite auf die andere und von der anderen wieder auf die eine.

Mir war zu warm, wenn ich mich unter die schwere Decke kuschelte, aber gleichzeitig zu kalt, wenn ich meine Füße unter der Bettdecke hervorstreckte.
Entnervt und vollkommen erschöpft starrte ich in die immer tiefer werdende Dunkelheit. Heiliger Morpheus, wenn es dich gibt, bitte schick mir Schlaf!
Hätten wir Vollmond, würde ich sagen, dass ich zum Werwolf mutierte, aber ich hatte bereits mehrmals aus dem Fenster geschaut, durch das der nur halbvolle Mond in mein Zimmer fiel und alles in silbriges Licht tauchte.
Gut, ich hatte nicht nur wegen des Mondes aus dem Fenster geschaut. Mir ging das Bild nicht aus dem Kopf, wie Ben sich mühelos vom Fensterbrett schwang und ohne weiteres im Abend verschwunden war.
Natürlich war ich nach ein paar Momenten Schockstarre ans Fenster gestürzt, um auf seine hoffentlich heilbaren Überreste zu starren, aber nichts dergleichen befand sich unter meinem geöffneten Fenster.
Ben war einfach weg gewesen.

Wie ein Ertrinkender im Meer klammerte ich mich an die Hoffnung, dass er übernatürlich gute Sprunggelenke besaß, einfach auf dem Boden aufgekommen war und sich dann (in Höchstgeschwindigkeit) auf in den Wald gemacht hatte, um wieder nach Hause zu laufen. Wo auch immer dieses "Zuhause" war.

Wieder rollte ich mich auf die andere Seite meiner Matratze, sodass ich an die Wand starren konnte. Mittlerweile sah ich aus wie eine Sushi-Rolle, eingewickelt in meine Bettdecke, aber ohne Reis.
Ich wünschte, ich hätte ihn nach seiner Handynummer oder wenigstens seinem Code zu seinen Gedanken gebeten, damit ich mich versichern konnte, dass er wohlauf in seinem Bett lag und wie ein kleines Baby schlief.
Ich sah auf meinen Wecker.
4:15 Uhr.
Mist.
Es hatte sowieso keinen Sinn mehr. Missmutig rappelte ich mich aus meinem provisorischen Schlaflager auf und berührte mit meinem Zeh den eiskalten Fußboden. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich beide Füße auf die Eisfläche stellte und mich, immer noch als Sushi-Rolle, halb schlurfend, halb hopsend auf die Tür zubewegte, um mir etwas zu trinken aus der Küche zu holen.
Leider war ich so fertig mit der Welt, dass ich für einen Moment vergaß, dass ich nicht mehr in meinem Zimmer in Australien befand, sondern in Irland.
Wumms!
Ich war mit halbgeschlossen Augen mit voller Wucht zwanzig Zentimeter neben meiner Tür gegen die Wand gehüpft.
Kopf voran natürlich.
Einen Moment lang blieb ich schwankend stehen, die Hände mit der Sushirolle an den Körper gepresst, dann kippte ich wie ein Baum nach hinten um und schlug mit dem Hinterkopf auf dem Holzboden auf.
Großartige Nacht.
Für kurze Zeit wurde mir schwarz vor Augen, während mein Schädel sich mit stechenden Schmerzen und einem grässlichen Schwindelgefühl bemerkbar machte. Ich war sicher, das ich mich gleich übergeben würde.
Großartiger Morgen in ein paar Stunden, eingewickelt in eine Bettdecke auf dem kalten Fußboden, was mir vermutlich noch eine Blasenentzündung einhandeln würde, mit grausamen Kopfschmerzen und Übelkeit, die meine Gedanken zum Schaukeln brachten.
Blinzelnd versuchte ich die Welt zum Anhalten zu bringen, die sich wie ein dunkles Hochgeschwindigkeitskarussel um meinen Kopf drehte.
Kein Erfolg. Vor Schmerzen stöhnend versuchte ich mich aus meiner Sushi-Rolle zu winden, um mich wenigstens bis zur Matratze zu schleppen, wo ein elendiger Tod wenigstens etwas Klasse hatte.
Es war eine bescheuerte Idee. Jede Bewegung fühlte sich an, als ob jemand ein Messer in meinen Kopf gesteckt hätte und es jedesmal umdrehte, sobald ich meine Muskeln anspannte.
Schließlich gab ich es auf. Flach atmend, um den Würgereiz zu unterdrücken, blieb ich, eingerollt wie ich war, am Boden liegen und begann die Primzahlen aufzusagen.
So lenken sich Nerds ab.

Vom Boden aus konnte man durch das Fenster bis zum Mond hinauf gucken, der am Himmel von mehreren Wolken, die allesamt wie Steintrolle aussahen, verdeckt wurde. Selbst er schlug sich die Hände wegen meiner Dummheit vor die Augen. Ich kicherte.
Meine Güte, mein Kopf hatte echt was abbekommen.

Mit der Zeit verzogen sich die Wolken und gaben den Blick auf den Mond frei, der mein Zimmer mit jeder verschwundenen Wolke mehr erhellte. Das silbrige Licht wanderte über meine Möbel, beleuchtete die kleinen tanzenden Staubpartikel, die in der Luft schwebten und hellte die Wand auf, vor der ich lag. Langsam begann der stechende Schmerz zu einem stechenden Wummern abzuebben.
Da meine Augen das einzige waren, was ich bewegen konnte, ohne mir in den nächsten Sekunden mein Essen noch mal durch den Kopf gehen zu lassen, folgte ich dem Licht und betrachtete die bemalte Wand.
Es war die Seite des Zimmers, auf der Ben gezeichnet hatte, bevor er ...bevor er damit aufgehört hatte.
Als sich mein Sichtfeld langsam wieder zu klären begann und sich die Welt nicht mehr ganz so doll drehte, betrachtete ich die Wand genauer.
Zu Beginn, auf der linken Seite, bestimmten Wolken die bemalte Fläche. Weiße, flauschige Wattebauschen sammelten sich stellenweise, während woanders der helle Himmel hinter den Wolken hervorschaute.
Ich musste zugeben, dass Ben ein wahnsinniges Talent zum Zeichnen hatte. Selbst im Halbdunkeln, in dem ich ihn auch nicht malen sah, konnte ich erkennen, mit welcher Sicherheit und Leichtigkeit der Pinsel über die Wand geglitten war. Weiche Linien wechselten sich mit harten Kanten ab, die wiederum sanften Verläufen Platz machten.
Es war unglaublich, bis ich zu der Stelle kam, an der er ganz offensichtlich nicht mehr bestimmen konnte, was er malte. Hier herrschten harte, schnelle und ruckartig gezeichnete Linien vor; teils mit sehr wenig, teils mit sehr viel Farbe gemalte Flächen fügten sich zu einem für mich nicht erkennbaren Muster zusammen.
Ein Stechen hinter meinen Augen ließ mich die Lider schließen.
Meiner Selbstdiagnose nach hatte ich gerade eine miese Gehirnerschütterung davongetragen, die sich morgen vermutlich mit einer dicken Beule an der Stirn und am Hinterkopf zeigen würde. Zum Glück (oder zum Pech, wie man will) war gerade eh keine Mützenzeit.
Einer plötzlichen Eingebung (bei einer Gehirnerschütterung vermutlich nicht ganz verlässlich) folgend, riss ich meine Augen wieder auf und starrte die Wand erneut an.
Jedoch verweilte ich dieses Mal nicht bei den Details, sondern versuchte, das Gezeichnete als großes Ganzes zu erfassen.
Ich kniff die Augen zusammen, ignorierte den Schmerz und begann dann, meine ganzen Sinne auf das Bild zu konzentrieren.
Mit einem Mal wurde das Bild klar, als wären mir Schuppen von den Augen gefallen.
Voller Überraschung rührte ich mich keinen Millimeter, was bei meinem Zustand sowieso verheerend gewesen wäre, und starrte das Bild und die Geschichte dahinter an.
Es war eine unfassbare Komposition, die sich jetzt, wo ich sie einmal gesehen hatte, nie wieder verlieren würde. Verblüfft fragte ich mich, wie ich es jemals hatte nicht sehen können. Ich tastete mit den Augen die Linien nach, versuchte, die Geschichte hinter dem Bild zu erahnen und versank im Anblick der Kunst.
Meine Wand, die ehemals gelbe Wand, die früher nichts weiter als eine Wand gewesen war, war jetzt ein Versprechen.
Zwei Engel, mit den Gesichtern zweier mir sehr bekannten Menschen, überblickten zusammen die Unendlichkeit.

Lächelnd schloss ich die Augen und tastete blind nach der Unendlichkeit dieses Bildes in meinem Gedächtnis. Einmal gefunden, zog ich es ganz nah an mich heran, umklammerte es fest mit all meinen Sinnen und ließ mich dann langsam in den Schlaf gleiten.
Obwohl mein Kopf brannte, ich morgen wahrscheinlich eine Blasenentzündung haben würde und ich immer noch nicht wusste, wie es Ben ging, konnte ich plötzlich einschlafen.
Das letzte, woran ich dachte, bevor mich der Schlaf übermannte, waren zwei Engel, die sich die Hände gaben.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 19, 2016 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Himmelskinder (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt