14. Der Kampf um die Vorherrschaft in meinem Hirn

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"Das ist eine Eule"
"Das ist eine Mikrowelle"
"Es ist eine Eule!"
"Mikrowelle!"
"Ich finde, es sieht aus wie eine Eule"
Ich schnaubte grinsend. Mit Ben ließ es sich einfach nicht vernünftig diskutieren.
Man sah doch sofort, dass das eine Mikrowelle war! Die Farbe, diese Rundung der rechte Ecke, der Griff an der Tür... Selbst wenn ich meinen Kopf schieflegte und die Augen zusammen- Na toll.
Warum waren meine Herleitungen  eigentlich immer so unlogisch?!
Warum konnte nicht einmal meine Mikrowelle den Kampf um die Logik gewinnen?

Jetzt musste ich Ben Recht geben.
Ich mochte es nicht, anderen Leuten ihre Art der Wahrheit zu bestätigen, da das automatisch hieß, das ich Unrecht hatte.
Es war zwar keine nette Eigenschaft, immer die eigene Meinung durchsetzen zu wollen, aber ich kam damit klar. Zu mir gehörten halt auch meine schlechten Seiten.

"Gut, du hast Recht. Die Wolke hat tatsächlich etwas von einer Eule. Aber nur ein bisschen", gab ich resigniert zu. Aus Bens Richtung war ein undeutliches Glucksen zu hören.
"Ist doch eh egal, jeder sieht in einer Wolke etwas anderes. Obwohl Mikrowelle schon ziemlich weit hergeholt ist". Ben starrte kopfschüttelnd auf die von ihm gemalte Wolke an der Wand und legte den Kopf schief. "Mal ehrlich, ich..." "Ist ja gut!", fiel ich ihm ins Wort und lachte.

Wenn wir bei jeder Wolke, die wir malten, solche Diskussionen führten, würden wir nie fertig werden. Wir brauchten einen Plan.
"Ich male jetzt an der Wand" Zielstrebig deutete ich auf die gegenüberliegende Seite meines Zimmers, "und du malst hier weiter. Dann kommen wir uns nicht mehr in die Quere." Ohne auf Bens Antwort zu warten schaufelte ich mir weiße Farbe auf den Deckel des Farbtopfes und hüpfte zur gegenüberliegenden Wand.
Ich war ja schon etwas seltsam. Ernsthaft, ich steckte im Körper einer Fünfzehnjährigen und benahm mich, als wäre ich gerade aus dem Kindergarten rausgekommen. Vermutlich sollte ich das mal untersuchen lassen.

Als meine stampfenden Elefantensprünge jedenfalls verklungen waren, wurde es still im Raum. Unsere Pinselstriche und die tiefen Atemzüge waren die einzigen Geräusche, die mich davon abhielten, mich wie in einem Vakuum zu fühlen, genauso wie die unglaublich leisen Schritte, die Ben machte, um sich an der Wand entlang zu bewegen, sodass er eher über den Boden schwebte als lief.
Es faszinierte mich ungemein, wie jede seiner Bewegungen von einer ruhigen Eleganz untermalt war, sodass ich mir, neben ihm als leichter Südwind, wie eine Planierwalze mit Betonklötzen vorkam, die bei jedem noch so kleinen Manövrierversuch von der Straße geschleudert werden würde.
Mit anderen Worten, er beeindruckte mich. Und dieses Zugeständnis handelte mir jetzt schon Schläge meines Unterbewusstseins ein.
Schon seltsam, dass ich in Gedanken selbst mit mir um die Vorherrschaft in meinem Gehirn kämpfte.

Kopfschüttelnd zwang ich mich dazu, meinen Blick von Ben zu reißen und mich voll und ganz auf die blaue Wand vor mir zu konzentrieren. Ich war ja nicht zum Anstarren von ihm hier.
Tief luftholend setzte ich den Pinsel auf meine Leinwand und begann zu malen. Dieses Mal unterbrach ich meine Gedankengänge nicht, sondern ließ mein Gehirn machen, was immer es wollte.
Und siehe da, was dachte ich?
Ganz genau. Nichts.
Da wollte man mal ausnahmsweise denken und dann fiel einem nichts ein.
Anderen Leuten fehlte der Gleichgewichtssinn, mir fehlte schlichtweg das ganze Gehirn. Und der Gleichgewichtssinn auch.
Mieses Karma, Heaven.
Um zurück zum Thema zu kommen, dass ich eigentlich einen Tornado an Hirngespinsten erwartet hatte, kamen meine wirren Gedanken also langsam zur Ruhe und begannen, sich nur noch um die Fixpunkte "Malen" und "Organische Tätigkeiten" zu kreisen.
Was gut war, wenn man wollte, dass der Darm da blieb, wo er war.

Ich schloss meine Augen, um die Außenwelt gänzlich auszublenden und spürte, wie sich ein längst vergessenes Gefühl in mir ausbreitete. Kein negatives Gefühl, im Gegenteil, es glich eher einer tiefen Geborgenheit und Ruhe, die ich schon seit meinem Umzug nicht mehr gespürt hatte.
Fast ohne darauf achten zu müssen glitt der Pinsel über den blauen Grund und meine angestrengte Konzentration ließ einer fast meditativen Stimmung Platz. Meditation. Ich. Schwachsinn.
Da war es um meine freien Gedanken und die Ruhe geschehen.
Ich fühlte mich wie ein schlechter Guru, der gleich Buddha an die Wand malen würde, wenn er nicht von seinem Gehirn gestoppt würde. Ich riss die Augen auf.
Eine buddhaförmige Wolke nahm vor mir auf der Wand Gestalt an.
Meine Güte, ich sollte wieder aufhören zu denken!
Mit all meiner Willenskraft gelang es mir, den Pinselstrich so umzuleiten, dass man Buddha nicht mehr erkennen konnte, obwohl es jetzt Ähnlichkeit mit einer Schildkröte hatte. Mieses Karma, Buddha.

"Heaven." Ben riss mich aus meinen Gedanken. Glücklicherweise.
"Ja?" Ich drehte mich nicht um, um ihn anzusehen, aber ich spürte, wie sein Blick auf mir ruhte, was mich mit Unbehagen erfüllte. Ich hasste es, angestarrt zu werden.
"Heaven, Heaven, Heaven", murmelte er und ich ließ langsam meinen Pinsel sinken. Färbte mein Umgang jetzt schon ab und er war am Verrücktwerden? Saugte ich ihm das Gehirn ab? Mieses Karma, Ben.
"Ein Name, der wie Regen aus dem Himmel gebar'...."
Okaay, das wurde schon langsam sehr suspekt. Ich hielt es nicht mehr aus und drehte mich um, in der Hoffnung noch einen Fünkchen Verstand in Bens Kopf zu finden, die mir die Sicherheit gegeben hätte, dass ich ihn nicht ganz zerstört hätte.
Fehlanzeige.
Ben hatte sich wieder umgedreht, aber nicht aufgehört, zusammenhangslose Wörter zu murmeln, während er seinen Pinsel mit der Präzision eines elektrischen Brotmessers über die Wand führte.
Es war beeindruckend.
Wieder bekam ich einen Schlag von meinem Unterbewusstsein ab.

Ich konnte nicht sehen, was genau Ben zeichnete, aber es waren definitiv keine Wolken mehr. Auch seine Körperhaltung hatte sich verändert. Während er vorher allenfalls ein wenig schüchtern und überrumpelt gewesen war, strahlte er nun eine seltsame Mischung von negativen Gefühlen aus. Sofort verflüchtigte sich mein Sarkasmus in die Winkel meines Gehirns und ließen bei mir ein mulmiges Gefühl zurück. Ich mochte nicht behaupten, dass ich ein Psychologe war, der anhand der Körperhaltung eines Menschen erkennen konnte, in welcher Stimmung sich dieser gerade befand, aber einige offensichtlichen Zeichen ließen sich sogar von mir lesen. Auf was ich in diesem Moment gerne verzichtet hätte.

Bens hochgezogenen, zitternden Schultern, die Angespanntheit vieler Muskeln, seine ruckartigen Bewegungen, all das ließ auf nichts Gutes schließen.
Ich musste etwas unternehmen. Vielleicht steckte in mir ja doch ein Fünkchen eines Gurus. Oder eines Psychologen.
Vorsichtig legte ich den Pinsel und die Farbe auf dem Boden ab und bewegte mich mit für meine Verhältnisse leisen Schritten auf Ben zu. Als ich hinter ihm stand, konnte ich einzelne Wortfetzen aufschnappen, die mein Unbehagen wachsen ließen.
"...meine Schuld....er sollte....warum....Fliegen...Himmel...helfen..." Zwischen seinem Gemurmel meinte ich Schluchzer zu hören, aber das hätte auch mein eigenes Blut gewesen sein können, dass mit Überschallgeschwindigkeit durch meinen Körper zirkulierte.
"Ben?" Vorsichtig legte ich ihm meine Hand auf die Schulter. Er zeigte keine Reaktion.
Ich musste ehrlich sein, ich hatte Angst. Angst vor den Gefühlen dieses Jungen, den ich kaum kannte. Angst vor seiner Vergangenheit. Angst vor meinen eigenen Gefühlen. Und vor allem Angst davor, was gerade passierte, was auch immer das war.
"Ben!" Ich packte ihn an beiden Schultern und zwang ihn, seinen Kopf zu mir zu drehen, sodass ich in sein Gesicht sehen konnte.
Bens Gemurmel verstummte, aber er blickte einfach durch mich durch, ohne mich zu sehen.
Wie von einem elektrischen Schlag getroffen ließ ich ihn los und taumelte einen Schritt zurück. Was tat ich hier eigentlich? Ich war kein ausgebildeter Rettungshelfer! Adrenalin pumpte durch meine Blutbahnen und ich begann zu zittern. Ja verdammt, ich hatte Angst! Ein australischer Erste-Hilfe-Kurs war nicht gerade etwas, das einem Sicherheit verschaffte, wenn jemand vor dir gerade einen traumatischen Anfall hatte! Fieberhaft kramte ich in meinem Gehirn nach irgendwelchem nützlichen Wissen über Medizin, aber meine Furcht blockierte jeden meiner Gedanken. Das einzige, was ich gedanklich zustande brachte, war ein 'verdammt, verdammt, verdammt, was soll ich tun!', was mir nicht wirklich weiterhalf.
Bens Hände ballten sich zu Fäusten und der Pinsel landete mit einem in dieser Stille ohrenbetäubenden Geräusch auf dem Boden.

Im Nachhinein wäre es vielleicht logisch gewesen, spätestens jetzt meine Eltern zu rufen, aber in dieser Situation war mir das schlichtweg nicht eingefallen.
Stattdessen warf ich mein Gehirn über Bord und ließ mein Herz entscheiden. Und mein Herz kannte leider keine Vernunft.

Wie unvorstellbar es auch war, ich ging mit wackeligen Schritten und höllischer Angst auf Ben zu und umschloss seine geballten Fäuste mit meinen Händen. Sie waren eiskalt.

"Ben", hauchte ich mit vor Angst zitternder Stimme.
"Ben, sieh mich an" Ich selbst hob meinen Blick und sah in seine Augen.
Ich hatte sie noch nie auf diese Weise betrachtet, wie sie sich mir jetzt zeigten.
Denn ich sah nicht in seine sonst so wunderschönen grünblauen Augen, sondern in das Leben eines Menschen, der gebrochen war.
Die Seele eines verlorenen Jungen.

Himmelskinder (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt