Teil 4

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Meine Finger schließen sich um den Türgriff. Ich werde jetzt ohne seltsam zu wirken aussteigen und mich umdrehen um meinem Vatter zum Abschied zu winken. Es wird alles ganz normal aussehen. Niemand wird erfahren, dass es schwer ist. Ich werde mich bei Nina unterhacken und sie wird mich führen, ich kann ihr vertrauen.

Das Auto hält. Es ist alles so anders als ich dachte. Ich habe gar keine Zeit mich zu meinem Vatter umzudrehen, denn vorher umarmt mich Nina.

HALLO SUPER DAS DU KOMMEN KONNTEST

Ich nicke und realisiere erst später, dass sie das nicht sehen kann, da sie mich noch immer umarmt.

,,Ich finde es auch ganz toll.“

Ich werde immer besser im Sprechen, seit es mir wichtig geworden ist verstanden zu werden. Ich löse mich von Nina und winke in Richtung Auto, schließe die Tür und hacke mich bei Nina unter. Sie hat ein langes Gespräch mit meiner Mutter geführt. Sie weiß warum!!

,,Welchen Film schauen wir denn?“

Nina zuckt mit den Schultern. Sie scheint vergessen zu haben, dass es nur Zufall ist, dass ich es spüre.

KEINE AHNUNG ICH WÜRDE GERN ETWAS LUSTIGES SCHAUEN

Ich lächel. Das hört sich gut an, wenn ich das so denken darf. Wir bleiben stehen und Nina schiebt mich sanft in Richtung Kasse. Jedenfalls vermute ich, dass wir zur Kasse gehen. Die Kassierin hat ein sehr aufdringliches Parfüm und ich flüstere leise Nina ins Ohr:

,,Gut richt sie ja nicht gerade!“

Nina muss kichern. Wenn jemand lacht oder kichert, dann bekomme ich Punkte auf die Haut gedrückt, als eine Art Error.

DAS IST EIN MANN

Jetzt muss auch ich lachen. Sie sagen mein Lachen wäre schön. Ich höre es nicht. So gehen wir zur Kasse und ich schalte mein Gerät ab, bis Nina bestellt hat. Sie redet nämlich in normaler Lautstärke und das heißt sehr laut. Meine Mutter möchte mit mir ins Krankenhaus fahren und das Gerät umstellen lassen, damit sie nicht immer flüstern muss und ich auch mal einkaufen gehen kann oder solche Dinge eben. Sie wollen ein normales Leben für mich. Ein Leben, wie ich es nie wollte.

Nina tippt mir an die Schulter und flüstert mir etwas ins Ohr, schnell stelle ich das Gerät wieder an. Doch es ist zu spät, sie hat bereits aufgehört zu sprechen. Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu und sie flüstert erneut in mein Ohr (obwohl sie sich eher zu meinem Bauch beugen sollte, weil dort noch die Mikrofone sind)

WIR SCHAUEN KOKOWÄÄHH ZWEI ICH DACHTE DER WÄRE IN ORDNUNG

Ich nicke mit einem zufriedenen Lächeln. Ich werde immer besser im Verstehn, das liegt daran, dass ich immer mehr Wörter selbst aussprechen kann. Toll, oder?! Aber ihr versteht mich ja eh nicht.

Es hat mir wohl sehr geholfen den Film zu schauen. Mein Hör-Gefühl ist wesentlich besser geworden, auch wenn es mich ab und zu geärgert hat, dass ich so viel verpasse, dass ich nicht sehe. Ich werde zum Gegenteil eines Egoisten, weil es mich sogar schon freut jemanden anderen Lachen zu spüren, auch wenn ich nicht weiß warum.

WOLLEN WIR NOCH SHOPPEN GEHEN

Will ich das? Na klar! Ich liebe das Gefühl von neuen Kleidern auf der Haut, den schweren Duft von Hollister, der an Gestank grenzt und das neue Körpergefühl, das der Schnitt von Kleidung auslöst. Ich liebe es, wenn die Leute Lachen, weil ich die falsche Größe oder Farbe anprobiert habe.

Nina schleift mich auch sofort in einen bekannten Laden. Ich glaube H&M. Sie meint, sie wolle mich ganz neu einkleiden. Also suche ich Klamotten für sie und sie welche für mich. Wir haben eine Menge Spaß und nur für den Fall, dass ich irgendwann wieder sehen kann, holt Nina ihre Kamera aus der Tasche und schießt Fotos. Sie will mir ein fotoalbum machen, vielleicht werde ich es irgendwann anschauen können, aber bis dahin...

DAS SIEHT VERDAMMT GUT AUS DU KÖNNTEST MODEL WERDEN

Echt?? Ich glaube nicht. Meine Hände streifen über meine starken kurven, über meine großen Brüste und meinen flachen Bauch. Sie ist ganz anders. Nina hat etwas kleinere Brüste, obwohl sie größer ist als ich. Wir beide haben lange schmale Beine, doch ihre Haare sind glatt und nicht so lang wie meine. Sie hat ein Pony, der am Rand immer länger wird und schwarze Haare. Ich finde sie hübsch. Sie hat ein rundes Mondgesicht und große Augen. Ich bin froh, dass sie heute wieder bei mir ist.

Wir laufen noch eine Weile durch die Straßen, immer wieder zieht Nina mich von einer Laterne weg, oder fängt mich, wenn ich stolpere. Ich werde wieder kommen und üben. Das schwöre ich.

SOLLEN WIR ETWAS LAUFEN ÜBEN ALSO DAS DU ALLEINE LÄUFST UND SO TUST ALS OB NICHTS WÄRE

,,Tolle Idee! Aber ich glaub nicht, dass es klappt.“

Schließlich reicht Nina mir ihre Hand und lässt dann ganz los. Ich versuche mich an den anderen Leuten zu orientieren. Es ist schwer, da das Parfüm wie ein Hauch vorbeizieht, aber wenn ich übe, werde ich vielleicht irgendwann einmal ohne jemanden anderen shoppen gehen können. Doch für heute, lerne ich einfach nur Nina zu folgen, ohne das sie mich berrührt oder mit mir spricht.

Wir sitzen in Starbucks und ich nippe an meinem Milchcafe. Er schmeckt mir nicht. Ich muss noch herrausfinden, welche Art ich am meisten mag. Ich habe es damals vergessen.

Nichts sehen, nichts hören und nichts sagen können.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt