So leise, wie nur möglich, schlich ich mich durch meine Tür in den Flur. Dieser mündete in ein im Stil der 60er Jahre eingerichtetes Wohnzimmer. Die Möbel waren auf dem neusten Modestand, da wir, damit ich auf die Akademie gehen konnte, umgezogen und das neue Haus völlig anders eingerichtet hatten.
Behutsam stiel ich mich in Richtung Haustür, zog dort meinen dicken Pelzmantel und kniehohe, braune Lederstiefel an und drehte mit fliegenden Fingern den Schlüssel im Schloss um. Die Tür schwang mit einem leisen Quietschen auf und ich trat in den knisternden Schnee. André stand immer noch grinsend am Gartenzaun und musterte mich, als ich durch den Tiefschnee auf ihn zu stapfte. Es knirschte verräterisch unter meinen Schuhsohlen und ich beeilte mich so gut ich konnte, mich von diesem Haus zu entfernen.
Verdammt! Ich hätte einen Brief für meine Eltern dalassen sollen. Sie würden sich wegen meines plötzlichen Verschwindens Sorgen machen und im Ernstfall die Polizei rufen, falls ich nicht bald zurückkehrte.
„Kommst du endlich?", riss mich Andrés Stimme aus meinen Gedanken. Ich hörte auf, zurück auf das Haus zu starren und schleifte mich weiter. Als ich bei André ankam, zog er mich an sich heran und drückte mich sanft. Ich schmiegte meinen Kopf an seine Brust und atmete seinen süßen Duft ein. Es war das erste Mal, dass wir uns so nahe waren ... Vielleicht waren die letzten Tage, in denen wir uns nicht gesehen hatten, der Grund dafür.
„Schön, dich wiederzusehen. Ich dachte schon, ich würde dich in den Winterferien gar nicht mehr zu Gesicht bekommen können."
Er hielt mich auf Armeslänge von sich weg.
„Nein, du hast dich seit letzter Woche nicht verändert. Immer noch dieselben, zierlichen Gesichtszüge und dasselbe Blitzen in den Augen!" Er schmunzelte.
„Wollen wir ...?" Er deutete mit einem Kopfnicken in Richtung Straße. Ich nickte nervös, weil die Nähe mir Schmetterlinge in den Bauch zauberte, die von meinem schlechten Gewissen, verbotenerweise auszugehen, niedergeschmettert wurden. Ich hakte mich dennoch bei ihm unter und versuchte zugleich, meine aufdringlichen Gedanken zu verscheuchen. Ich wollte endlich die sein können, die ich in Wahrheit war.
Wir liefen schweigend die Straße hinunter. Die einzigen Geräusche, die uns umgaben, waren die des Schnees unter unseren Füßen und das entfernte Zwitschern von Vögeln, die anscheinend keine Winterreise angetreten hatten.
Wir erreichten schließlich einen pflanzenüberwucherten Trampelpfad am Ende der Einbahnstraße und André zog mich ohne Weiteres dort entlang. Ich protestierte nicht. Wir gelangten nach weniger Zeit an eine große, weite, schneebedeckte Weide, die mit einem Stacheldrahtzaun vom Weg abgegrenzt war.
André warf mir einen Blick zu, der besagte: „Traust du dich?" Ich runzelte die Stirn und hoffte inständig, dass er nicht das meinte, woran ich dachte. Leider hatte ich genau das Richtige geahnt.
André nahm meine rechte Hand und erklärte: „Stell deinen rechten Fuß einfach auf den unteren Draht." Ich schüttelte erschrocken den Kopf. „Nein! Das ist doch verboten! Außerdem hält er mich bestimmt nicht aus." Er sah mich unbeirrt an.
„Dieser Draht, Noreen, hält dich ganz sicher aus, weil er auch mich schon mal ausgehalten hat." Ich setzte für eine Erwiderung an. Kaum hatte ich jedoch den Mund geöffnet, sprach er weiter.
„Da ist auch kein Strom drauf, ich hab's getestet."
„Ja, aber ..." Weiter kam ich nicht, denn er zog mich näher an den Zaun. Während ich versuchte, nicht über den Verbot nachzugrübeln, stellte ich mit gekonnter Leichtigkeit meinen Schuh auf den unteren Stacheldraht und verlagerte mein Gewicht darauf.
„Halt dich gut an meiner Hand fest, ja?" Ich nickte und umklammerte seine Hand und einen Teil seines Unterarms. Daraufhin half er mir, mein linkes Bein über den Zaun zu schwingen und weich auf der anderen Seite zu landen.
Als würde er dies jeden Tag machen, kletterte er mit atemberaubender Schnelligkeit über den Zaun und kam schaukelnd neben mir an.
Gemeinsam liefen wir in die Mitte der Weide. Der Schnee glänzte und glitzerte in der Morgensonne, als hieße er uns mit leuchtenden Augen willkommen. Die Bäume, die die weite Fläche umgaben, bogen sich im leichten Wind und die Eiskrusten, die sich an ihren nackten Ästen klammerten, bröckelten ein wenig ab.
Heimlich beäugte ich André von der Seite und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich ihn wirklich liebte. Es war nicht nur sein Äußeres, das mich anzog und auch nicht seine Erscheinung oder seine Kommentare. Es war nicht nur das Fremde, Eigenartige und Neue an ihm, das mein Herz zur doppelten Geschwindigkeit anfachte. Nein, nicht die Tiefe seiner Augen und auch nicht seine Sanftheit, mir gegenüber, sondern ... Es war sein Inneres; es war die Wärme, die seine Seele ausstrahlte, die Unschuld, die noch durch seine mit der Zeit verhärteten Züge an manchen Tagen auftauchte, obwohl ich nie daran glaubte oder glauben würde. Doch all das ... wie sollte ich denn je die Gefühle, die mich in jenem Moment überrumpelten, beschreiben können? Er war mehr als Zuneigung, mehr als Verliebtheit - ja, vielleicht war es Bewunderung, vielleicht auch nur Staunen vor seinem ganzen Selbst.
Wir gelangten an die Mitte der Koppel. Ich hielt abrupt an und drehte den Kopf zurück. Wow! Wie weit wir gelaufen waren! Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, wir seien so weit von Zuhause entfernt. Auf dem Schnee konnte man unsere frischen Fußspuren erkennen und einige andere, kleinere, die wahrscheinlich von Tieren stammten. In mir erblühte ein merkwürdiges, aber nicht unangenehmes Gefühl. Irgendwie assoziierte ich unsere Fußspuren mit unserem Leben. Wir waren getrennte Wege gegangen - bis vor wenigen Monaten - und dann, waren wir den Weg eine Zeit lang gemeinsam angetreten. Jetzt standen wir hier, zusammen, aber wer wusste schon, ob wir nicht in wenigen Tagen schon erneut alleine weiterwandern würden, auf der Suche, nach unserem wahren Partner? Wer konnte schon sicher sein, dass wir für immer gemeinsam reisen würden? Wer? Ich nicht, obwohl ich es von ganzem Herzen wünschte. Ich wollte ihn für mich allein haben, für immer.
„Schlägst du jetzt hier Wurzeln?", erkundete sich André mit einem leichten Lachen. Ich drehte mich wieder zu ihm um, oder jedenfalls dahin, wo er vor wenigen Sekunden - oder Minuten - gestanden hatte. Doch hier war er nicht mehr. Er hatte sich um einige Meter von mir entfernt und die Hände in den eisigen Schnee gelegt. Dort arbeitete er eifrig daran, eine feste Kugel aus dem Schnee zu bilden.
„Hast du Angst?", fragte er mich schließlich.
„Was?" Hatte ich die Frage falsch verstanden?
„Wieso sollte ich?" Er lächelte in sich hinein, hob die Hand, in der er den Schneeball hielt, und warf ihn auf mich. Der Schlag traf mich unerwartet und ich stolperte zurück, verfing mich im Schnee und fiel hin.
Sein schallendes Lachen zauberte mir ein widerwilliges Lächeln auf die Lippen und ich stand mühsam auf, darauf bedacht, meine (ebenfalls) nackten Hände nicht auf den Schnee zu stützen. Wieso hatte ich nur meine Handschuhe vergessen?!
Ich blickte kurz auf und bückte mich gerade noch rechtzeitig, um einem weiteren Angriff zu entkommen. Das war genug!
„Ja? Du glaubst also ich hätte Angst!", rief ich ihm zu und kniete mich zurück in den Schnee. Egal, ob meine Hände froren, das konnte ich mir nicht gefallen lassen! Halb wütend, halb spielerisch, schoss ich den soeben geformten Schneeball auf ihn ab und verfehlte ihn nur um Millimeter. Misst!
Während er weitere Bälle auf mich abschoss, bildete ich einen kleinen Haufen geformter Schneebälle, die ich bei Gelegenheit alle auf ihn stürzen würde. Ab und zu warf ich zu meiner Verteidigung auch einen oder zwei in seine Richtung und lachte, wenn ich ihn traf.
Schließlich ergriff ich meine Chance: Er saß mit einem Knie im Schnee und raffte so schnell er konnte Schnee zusammen. In dem Moment, in dem er konzentriert den Boden fixierte, schoss ich all meine Schneebälle gleichzeitig auf ihn ab. Sie knallten auf seine Jacke, seine Hose und sogar auf seine Hände, sodass der Schneeball, den er gerade bildete, zersprang. Ich kringelte mich vor Lachen und umfasste meinen schmerzenden Bauch mit meinen Händen. Wenn das so weiter ging, würde ich einen Krampf in den Mundwinkeln bekommen ...*****
So. Hier mal ein etwas längeres Kapitel. Ich hoffe du hast dich nicht gelangweilt und die Zeit zum Lesen gefunden und genossen ;)
Ich würde mich echt freuen, wenn du ein Sternchen und einen Kommentar für mich da lässt! Das ist schließlich die einzige Rückmeldung, die ich bekomme, weil ich leider noch keine Gedanken lesen kann (ich arbeite daran! 😜)
Danke schon mal für deine Rückmeldung <3LG, Joe
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Yesterday
RomanceWie konnte er es wagen, mich so direkt anzusehen? Wer war er denn, um ein hochrangiges, junges Mädchen wie mich so anzublicken? Doch mein Herz machte einen Sprung. Als junges, verwöhntes Mädchen wird Noreen Withey in der Ballettakademie aufgenommen...