Eine einsame Träne löste sich aus meinen Augen und rollte gemächlich über meine Wange. Ich spürte noch Minuten, nachdem sie weg war, wo sie entlang gelaufen war.
Ich fühlte mich, als ob eine niemals wahrhaft zugewachsene Narbe, gerade wieder aufgerissen worden wäre und sie mit neuer Kraft all ihre Qual in unerträglichen Schmerz verwandelte. Meine Brust stand in Flammen, mein Herz schlug schnell.
„Mum? Alles in Ordnung?", erkundigte sich Euphemia besorgt und nahm meine Hand, während ich überlegte, dass genau das wahre Liebe war: Wenn jemand, den man wirklich liebt, verletzt wird, ob von einem selbst oder nicht, fühlt man mit ihm. Man spürt den Schmerz, die Traurigkeit. Aber all dies geschieht im Innern. Die eine Träne war der Beweis.
Es muss nicht offensichtlich sein, um wahr zu sein.
„Mum? Soll ich den Arzt rufen?"
Ich konzentrierte mich auf die Stimme meiner Tochter und schüttelte leicht den Kopf.
„Kannst du vorlesen?", hauchte ich und gab ihr den übrig gebliebenen, neuer wirkenden Brief. Während sie anfing vorzulesen, holte ich die Haarsträhne aus der Plastiktüte und streichelte sie mit den Fingern. Sie war so weich wie früher. So weich wie André.
„Okay", nickte Euphemia und las vor:Liebste,
Weißt du noch, wie wir uns zum ersten Mal getroffen haben? Ich saß am Klavier und war sofort von deiner Schönheit ergriffen, während du mich wütend und überlegen gemieden und ignoriert hast. Erinnerst du dich? Ich weiß noch genau - nach all den Jahren - wie deine kristallblauen Augen geleuchtet haben, als wir uns zum ersten Mal verabredet haben, auf der Feier eines Freundes ... Ich weiß nicht, ob du jemals diese Zeilen lesen wirst und ob ich mich dann noch daran erinnern werde, denn wie du irgendwann erfahren wirst, habe ich als alter Mann der Krankheit nachgegeben und mich dem Gedächtnisschwund hingegeben. Vielleicht ist es auch gut so, dann vergesse ich für einige Stunden, dein Herz und meines, die beide einst in Eintracht schlugen. Es ist wahrscheinlich besser so, wie es jetzt ist. Du bist sicherlich glücklicher und ich habe mein Schicksal verdient.
Ich danke dir dafür, mir so viel deiner kostbaren Zeit in der Vergangenheit geschenkt zu haben. Ich liebe dich.
Weißt du noch, wie wir am Lagerfeuer mit Freunden verabredet waren und gesungen haben? Ich weiß nur noch, dass wir ein Lied gesungen haben, das meinem Leben durchaus gerecht wurde ... mit der Zeit. Kannst du dich erinnern? Nein? Es war von den Beatles. Eines meiner Lieblingslieder. Ich kannte es damals noch nicht, du anscheinend schon, denn du hast mit voller Stimme mitgesungen. Es hieß Yesterday.Yesterday, all my troubles seemed so far away
Now it looks as though they're here to stay
Oh, I believe in yesterdaySuddenly I'm not half the man I used to be
There's a shadow hanging over me
Oh, yesterday came suddenlyWhy she had to go
I don't know, she wouldn't say
I said something wrong
Now I long for yesterdayYesterday love was such an easy game to play
Now I need a place to hide away
Oh, I believe in yesterdayWhy'd she have to go?
I don't know, she wouldn't say
I said something wrong
Now I long for yesterdayYesterday love was such an easy game to play
Now I need a place to hide away
Oh, I believe in yesterdayIch hoffe, du erinnerst dich noch an meinen Namen.
In Liebe,
AndréEuphemia senkte das Blatt und blickte mich betrübt an. Auch ihr waren erneut die Tränen gekommen und mit ihrem Ärmel, wischte sie sie ab.
„Benutz ein Taschentuch dafür", ermahnte ich sie flüsternd, um mich von dem Eigentlichen abzulenken. Sie lächelte matt und ich schloss die Augen.
„Euphemia, sag allen, dass ich sie vermissen werde, ja? Sag es ihnen und denk daran, dass auch Kleinigkeiten ein Leben verändern können. Ich liebe dich."
Ob sie antwortete, weiß ich nicht mehr, denn ich war in Gedanken längst fort.
Nein, das Leben ist nicht fair, aber die Fairness kann durch Menschenleben beeinflusst werden.
Ich hätte Andrés Leben beeinflussen können. Ich hätte ... ich hätte ... Ach, es tut mir einfach nur so leid.
Während ich in den Schlaf sank, wiederholte ich gedanklich unaufhörlich das Einzige, das mir noch zu den Briefen einfiel: Es tut mir leid. Es tut mir so leid, André. Es tut mir so sehr leid.Das Piepen, das der Elektrokardiograf von sich gab, wurde immer langsamer, und langsamer ...
Piep-Piep-Piep ... piep ... piep ... piiii ...Ende
*****
So. Das war's wohl schon und dieses letzte Kapitel widme ich an Grazine weil ihre Bücher so inspirierend sind!
Ich bin wirklich gespannt auf eure Reaktionen, also lasst mir auf jeden Fall einen Kommentar da ;)
Und weil ich so neugierig bin, habe ich noch ein paar Fragen:
1. Was ist eure Lieblingsstelle?
2. Habt ihr einen Lieblingssatz?
3. Wie findet ihr das Ende?Vielen, vielen Dank für die ganzen Votes und die ganzen ermutigenden Kommentare!
xxx Joe
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Yesterday
RomanceWie konnte er es wagen, mich so direkt anzusehen? Wer war er denn, um ein hochrangiges, junges Mädchen wie mich so anzublicken? Doch mein Herz machte einen Sprung. Als junges, verwöhntes Mädchen wird Noreen Withey in der Ballettakademie aufgenommen...