12.

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Allerdings blieb uns kaum Zeit, uns auf die liegenden Holzstämme um das Feuer herum zu setzten - zwischen zwei Jungen, beide ungefähr 16 und stoppelbärtig mit langem schwarzen Haar. Sie waren sofort zur Seite gerückt, um uns einen Platz zu verschaffen. Wir bedankten uns und der Junge neben mir, stellte sich vor: „Tach, ich bin Ayven und das -", er deutete auf den Jungen neben André, „ist Charles, mein Bruder. Wir kommen gerade aus Polen. Groß Britannien ist wirklich schön! Eigentlich sind wir nur für zwei Tage hier gewesen und wollten heute schon zurückfahren, aber da wir diese netten jungen Leute kennengelernt haben und diese uns eingeladen haben, dachten wir, wir könnten auch einen Tag länger bleiben. Schließlich sind ja Ferien."
Er lächelte und schiefe, weiße Zähne blitzten im Lagerfeuerlicht auf. Als sein Bruder anfing zu reden, musste ich ein Glucksen unterdrücken, denn sein Akzent war noch stärker als der seines Bruders und hörte sich sehr, sehr lustig an.
„Entschuldigt, aber wie heißt ihr?"
Ich zögerte, André antwortete: „Ich bin André und das ist meine Freundin, Noreen Withey."
Danke! Wieso nannte er nur mich beim Nachnamen? Als wäre meine Herkunft von Bedeutung, erst recht in diesen Kreisen! Anscheinend bemerkte er meinen Unmut jedoch nicht, denn er fuhr fort: „Schön, euch kennenzulernen. Wir - und die meisten an diesem Feuer - kommen auch nicht von hier. Ich glaube, unser Dorf liegt etwas nördlicher und nicht an der Küste. Eigentlich sind wir nur hier, weil Freunde von uns -", er machte eine umfassende Bewegung in Richtung der anderen, „... uns hierher eingeladen haben."
Die beiden Brüder schienen interessiert.
„Wohnt ihr alle in demselben Hotel?", fragte Ayven.
„Nein", erwiderte ich sofort.
„Ich meine, ja, die andern wohnen alle im selben Hotel, aber wir wollten nicht von der Gruppe abhängig sein und meine Eltern haben uns eine Wohnung für die Woche hier gemietet."
Ich hasste mich dafür, meine Eltern erwähnt zu haben, aber es war einfach so aus mir herausgekommen. Verdammt! Ich musste wie eine verwöhnte, reiche Diva auf die anderen wirken!
„Ach so ... cool!", rief Charles aus und gluckste.
Ich lächelte und beendete damit scheinbar die Unterhaltung. Keiner wusste mehr, was er sagen sollte.

Der Abend verging - im Gegensatz zu meinen Erwartungen - wie im Flug. Es wurde geredet, gelacht, gestritten, geseufzt ... und getrunken. Viel getrunken. Wenige Minuten - oder vielleicht war es auch eine halbe Stunde - nachdem wir angekommen waren, kam eine Gruppe schwarz gekleideter Jungs zu uns (und mal ganz unter uns, sie sahen aus wie zu groß gewordene Raben mit ihren schwarzen Stiefeln, schwarzen Hosen, schwarzen Jacken).
Sie setzten sich ans Lagerfeuer und sorgten für einige Unruhe unter den Anwesenden. Schließlich reichten sie eine von Leder umhüllte Feldflasche im Kreis herum und versprachen, sie hätten noch mehr.
Weil ausnahmslos alle einen Schluck nahmen und ich nicht herausstechen wollte, tat ich es ihnen gleich. Schon als die Flüssigkeit meine Lippen berührte, begannen diese zu brennen, doch ich trank tapfer weiter. Meine Zunge, mein Rachen, mein ganzer Körper stand alsbald in Flammen, doch auf eigenartige Weise hatte ich den Drang, mehr zu trinken, anstatt die Jungs anzubrüllen, was denn in dieser verdammten Feldflasche sei.
Die Flasche machte ihre Runden, einmal, zweimal, dann wurde eine neue rumgereicht und während wir redeten, uns vorstellten und kennenlernten, wurde die Stimmung immer besser und die Anzahl leerer Flaschen immer größer.
Als es schließlich vollkommen dunkel und die einzige Lichtquelle das Feuer war, kam ein leichter Wind auf und kühlte unsere schweißnassen Körper ab.
Nach einer Weile rückte ich ein Stück in Richtung André, um vor der schleichenden Kälte, die aus dem Wind und den nassen Kleidern entstand, zu entkommen. Dieser erzählte gerade von einer Errungenschaft, als er über einen Austausch in Frankreich - der Herkunft seiner Mutter - eine junge Geigenspielerin kennengelernt hatte. „Sie war so wunderschön ...", erklärte er gerade, doch ich reagierte nicht wirklich darauf, da mein ganzes Wesen in dem Rausch des Getränks gefangen war und die Konturen jeder Person am Feuer sich mit bunten Farben mischten, die ich nicht einzuordnen vermochte. Ich fühlte, dass mein Gehirn viel langsamer und schwerfälliger arbeitete als normalerweise, dennoch störte es mich in diesem Moment nur wenig. Es war einfach ein berauschendes, angenehmes Gefühl. Es war die Freiheit pur, eingeschlossen in einer Flasche. Ja, so unmöglich und paradox diese Tatsache auch scheint, ich schwöre, so war es.

„Ihr blondes, gewelltes Haar war ein Wunder - und so weich!", lallte André verträumt neben mir und ich musste mir eingestehen, dass er unmöglich mich und meine Kastanienbraunen Haare meinen konnte. Ich rückte näher zu ihm heran und beugte mich so vor, dass mein Gesicht genau vor seinen Augen prangte.
„Von wem redest du, Liebster?"
Meine Stimme hörte sich merkwürdig ungenau an, als ob mein Kiefer und meine Zunge nicht mehr den Befehlen meines Gehirns folgen wollten. Auch seine Zunge schien unzurechnungsfähig, denn er musste sich versprochen haben.
„Von meiner großen Liebe in Frankreich, Megan."
Ich sah ihn verwirrt an.
„Aber ich bin doch deine wahre Liebe, ich bin doch dein Engelchen, weißt du nicht mehr!?" Dass er so wirres Zeug vor sich herredete, weckte einen glühenden Zorn in mir, den ich nie zuvor verspürt hatte. Es war, als wären all meine Gefühle zugleich viel stärker und unterschiedlicher geworden und zugleich allesamt auf einen Punkt zusammengeschrumpft. André fuhr fort, sein Blick in den meinen gesenkt, obwohl ich dessen unermüdliche Wärme nicht mehr so stark verspürte wie in den letzten Tagen.
„Ja, sie ist es nicht mehr, das heißt, seit ich dich kennengelernt habe."
Ich lächelte erleichtert und er nahm, unter den Blicken der Anwesenden, meinen Kopf in beide Hände, beugte sich vor und legte leidenschaftlich seine Lippen auf die meinen.
Mein ganzer Körper prickelte - und diesmal nicht hervorgerufen von den züngelnden Flammen des Getränks. Es war wunderbar, erfüllend und erfrischend. Es war das Einzigartigste und Schönste, was ich je gefühlt hatte, obwohl meine Gefühlspalette zu dem Moment weitaus geringer ausfiel, als gewöhnlich. Vielleicht liegt es auch daran ... Ich meine, dass es sich so schön und nicht so klebrig oder ekelhaft anfühlte, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Vielleicht war in dem Moment mein Gehirn einfach nicht in der Lage, das Schlechte zu sehen.
Wir lösten uns nach einer Weile voneinander und ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. Ich spürte, wie er sein Kinn auf meinen Scheitel legte und leise mitsummte, als die anderen begannen, laut grölend „Lola" zu singen.
Nach einigen Sekunden setzten immer mehr Stimmen und schließlich sogar eine Gitarre ein. Ein mittelgroßer, braunhaariger Junge hatte sie mitgebracht und spielte, zwar ein paar Töne verfehlend, mit.
Gegen Ende des Abends, wir waren alle ziemlich neben der Spur, setzte der Gitarrist ein neues Lied an, bei dem mein Banknachbar, Ayven oder Charles - ich kann sie nicht unterscheiden - die Hauptstimme übernahm und mit lauter Stimme sang: „First day of my life."
Ich hatte meinen Arm mit dem von André verschränkt, dieser mit seinem Nachbar, der wiederum mit seinem Nachbar die Arme verschränkt hatte. Gemeinsam wippte die ganze Reihe, bald gefolgt von den anderen, hin und her im Takt der Musik. Schließlich stimmte der ganze Kreis in ein neues Lied der Beatles ein: Yesterday.
„Yesterday, all my troubles seemed so far away. Now it looks as though they're here to stay. Oh, I believe in yesterday ..."

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Jetzt habe ich wieder einen Ohrwurm von Yesterday 😂
Na, jedenfalls danke fürs Lesen, Kommentieren und Voten!

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