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Als ich die Augen wieder öffnete, leuchtete mir das grelle Licht einer Krankenhauslampe - oder wie diese Dinger heißen - ins Gesicht. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war: Wo bin ich? Was ist passiert?
Wohl gemerkt, das ist das wahrscheinlichste, was man denken kann. Erst allmählich fiel mir wieder ein, wo ich gewesen war und was ich getan hatte. Automatisch fielen meine Gedanken wieder auf das zurück, woran ich die ganze letzte Stunde (- oder Stunden?) gedacht hatte und wieder überwältigten mich Gedanken, Bilder, Gerüche und Stimmen aus meiner Jugend ...

Der Platz, auf dem wir standen, war groß, doch ich konnte kaum einen halben Meter vor mir sehen, weil überall um uns herum Menschenscharen umherliefen, rannten, lachten und redeten.

Ich versuchte, die aufdringliche Erinnerung zu verdrängen und mich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Wieso war ich hier? Wenn dies ein Krankenhaus war, was war dann mit mir geschehen?

„Komm mit!" Er nahm meine Hand und zog mich hinter sich her durch die Menge. Wir schlängelten uns durch kreischende Kinder, lächelnde Eltern, die ihnen beim Karusselfahren zusahen und sich umarmten und alte Personen, die sich bei dem Lärm die Ohren zuhielten und sich beschwerten, die Musik sei zu laut.

Ich musste bei dem Gedanken lächeln. Jetzt würde es mir wohl auch so ergehen ... Aber nein! Ich durfte nicht daran denken! Ich musste erst klären, wieso ich hier war!

„Wo führst du mich hin?", schrie ich André durch den anschwellenden Lärmpegel zu. Seine Antwort war nur verzerrt zu verstehen: „Luica ... mir havo esählt ... Wi geh ss Schießbue." Ich hatte nichts verstanden und folgte ihm weiterhin, stumm, weil ich die Antwort sowieso nicht verstanden hätte. Zudem kamen wir an einem Paar Lautsprecher vorbei, die dröhnend verkündeten, dass das Riesenrad in fünf Minuten geöffnet werden würde.
Schließlich, nach einer ganzen Weile, in der ich sozusagen blind dem rennenden Körper Andrés gefolgt und zwei Mal über meine eigenen Füße gestolpert war, erreichten wir einen etwas abgelegeneren Ort - wenn man das so nennen kann.
Die Dämmerung war vor einigen Stunden eingebrochen und die Sonne hatte sich hinter den umliegenden Häusern des Marktplatzes versteckt. Nur wenige, rot-orange leuchtende Strahlen erhellten den Himmel am Horizont und spendeten uns Licht.
Ich zog meinen Wollmantel enger um meinen Körper, damit die schleichende, winterliche Kälte mich nicht erreichte. Der Schnee, der in den letzten Wochen die Stadt überfallen hatte, war hier auf dem Marktplatz weggekehrt worden.
Wir traten in die relativ kurze Schlange an der Holzhütte. Von hier aus konnte ich über den Köpfen der Anstehenden das Schild, das an der Hüttendecke hing, sehen.
SCHIESSBUDE (Neueröffnung) - stand dort in Druckbuchstaben. Ich war noch nie auf einem Jahrmarkt oder einer Kirmes gewesen, geschweige denn an einer Schießbude. Ich war mir sicher, dass meine Eltern nicht darüber erfreut gewesen wären, mich hier vorzufinden. Nein, es war ganz und gar nicht meine Art, mich in solchen Menschenmengen aufzuhalten, es sei denn, es war mein eigener Auftritt auf einer großen Bühne oder ein Konzert, ein Ballett oder eine Oper, die ich besuchte. Wieso also, war ich hier? Nun, ich glaube es gibt so ein Sprichwort: Gegensätze ziehen sich an. Tja, das stimmte wohl in meinem Fall. Während ich gepflegt und gut erzogen war, ich jeden Sonntagmorgen zur Kirche ging, jeden Tag über acht Stunden studierte und meine weitere Freizeit mit Tanzen und Lesen verbrachte, war André mit ziemlicher Sicherheit in einige krumme Geschäfte verwickelt, verabscheute die Schule, die er an vier von fünf Wochentagen versäumte und war - nicht zuletzt - schon in ein paar Schlägereien verwickelt gewesen. André war Atheist und hatte - soweit ich wusste - noch nie einen Fuß über die Türschwelle einer Kirche gesetzt. Spätestens dies würde meiner Mutter und meinem Vater den Anlass geben, mir zu verbieten, mich mit ihm zu treffen - zumindest, wenn sie erfuhren, dass ich seit ein paar Wochen mit ihm ausging. Bis jetzt jedoch, hatte ich vorgetäuscht, einem hervorragenden Klavierspieler, der durch und durch passable war und in meiner geliebten Tanzschule die Musik spielte, in Astronomie Nachhilfe zu geben, was schließlich nicht ganz eine Lüge war. Erstens war André wirklich der wundervolle Klavierspieler in meiner Ballettschule und zweitens waren seine Kenntnisse in Astronomie - wie ich annahm - wirklich schlecht. Dass ich ihm nicht wahrhaftig Nachhilfe gab, war nur Nebensache.
Die Schlange rückte vor, ich und André folgten.
Ich bestätige: André hatte mich hierher geschleift, vollkommen aus dem Häuschen, dass ich, eine so hochranginge 16-Jährige, mich herablassen konnte, auf einen Jahrmarkt zu gehen. Um ehrlich zu sein, hatte ich bis vor wenigen Minuten nicht gewusst, wohin er mich führte. Bis vor Kurzem.
„Was hast du eben gesagt?", fragte ich André ein wenig irritiert über den Ort, an dem ich mich befand. Er sah mich an.
„Ich habe dir gesagt, dass Lucien mir davon erzählt hat, dass vor einigen Tagen eine Schießbude eröffnet wurde und dass wir dort hingingen, tut mir leid, aber wortwörtlich weiß ich es nicht mehr ..." Er schmunzelte.

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Hier ist also das nächste Kapitel von Yesterday. Ich hoffe es hat euch gefallen und ihr lasst mir ein paar Votes und Kommentare dar, ich würde mich sehr freuen ;)

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