Kapitel 6

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Ich ging wie in Trance über das Festgelände. Mir schwirrten alle möglichen Gedanken durch den Kopf, doch irgendwie gelang es mir nicht, an einem zu bleiben. Ich bahnte mir einen Weg zwischen den Tischen. Schließlich erreichte ich Fabi, die an einem der Tische stand und von mindestens zehn Jungs umringt war. Sie hatte schon einiges getrunken, das konnte ich schon von weitem erkennen. Als sie mich schließlich sah, warf sie theatralisch die Arme in die Luft, ohne darauf zu achten, dass sie in einer Hand ein Champagnerglas hielt und schrie lauthals: „Feeny! Schwesterherz, komm trink doch auch was!" Ich ließ mich von mir mitziehen und sie drückte mir ein Glas in die Hand. Ich nahm einen Schluck von dem teuren Champagner, aber er wollte nicht so recht hinunter. Fabi war bereits wieder in ein Gespräch mit zwei Jungen vertieft. Ich war nicht in der Stimmung zu reden, ich stand etwas einsam daneben und wusste nicht was ich tun sollte. Ich schaute aufs Meer. und auf einmal fielen mir siedend heiß die Einladungen wieder ein. „Komm zu Silvester um 12:00 zum Leuchtturm." Ich sah zum Leuchtturm hinüber. Er war ungefähr ein bis zwei Kilometer von uns entfernt. Sollte ich wirklich hinüber gehen? Und wenn ja, sollte ich alleine oder mit Fabi gehen? Ich sah auf die Uhr. Es war dreiviertel zwölf. Geistesabwesend stellte ich mein Glas auf den Tisch und machte mich auf den Weg zum Ausgang. Dort stand Lucas. Er sah mich etwas besorgt an. Mein Herz machte einen Hüpfer. „Was hast du vor?" fragte er mich. Ich war nicht in der Lage ihm irgendeine Lügengeschichte aufzutischen, also sagte ich nur: „Ich muss kurz weg, bin gleich wieder da." Skeptisch zog er eine Augenbraue hoch, ließ mich aber gehen. Ich lief ein Stück, dann streifte ich aber meine hohen Schuhe ab. Ich rannte. Ich hatte immer schon schnell rennen können, ich hatte mich noch nie beim Laufen verausgabt, ja mich schon eher zurückhalten müssen, um ungefähr im selben Tempo wie meine Freundinnen zu laufen. Nun rannte ich das erste Mal in meinem Leben, und der Strand und die Palmen zogen an mir vorbei, und wurden unkenntlich. Ich erreichte innerhalb von einer halben Minute den Leuchtturm. Ich fing mich an der Außenwand des Leuchtturms ab und lehnte mich dann an das weiße Geländer und ließ meinen Blick über das Meer schweifen. Eine leichte Brise zerwühlte meine Frisur, die ohnehin schon sehr zerstört aussehen musste. Mir hingen nun wesentlich mehr Locken ins Gesicht. Ich beschloss die Haare offen zu tragen und begann, die Haarnadeln aus dem einstigen Kunstwerk zu ziehen. Es mussten hunderte seien, stellte ich einige Zeit später fest, ich legte sie auf die Steinplatte vor den Eingang des Leuchtturms und nahm mir vor, sie morgen einzusammeln. Von der Ferne hörte ich ein Knallen. Ich blickte zurück auf das Festgelände und sah, dass meine Brüder gerade einige Feuerwerksraketen in den Himmel gefeuert hatten. Bald schon war es auf dem ganzen Strand hell, erleuchtet von den aufwändigen pyrotechnischen Meisterwerken, die meine Brüder da vollbracht hatten. Im selben Moment wurde mir bewusst dass es Mitternacht war. Ich stand auf und blickte auf die Wellen direkt vor mir. Weiter draußen sah ich etwas Violettes aus dem Wasser hervorblitzen. Einige Sekunden später rauschte eine größere Welle heran und ich wich einige Schritte zurück. Fünf Meter von mir entfernt lag eine Frau im Wasser. Sie hatte lange kastanienbraune Locken und einen violetten, eng anliegenden Rock bis zu den Füßen- aber wo waren die Füße? Die Frau wandte ihr Gesicht zu mir. Ich erschrak. Sie lächelte mir freundlich zu. Ich versuchte zurück zu lächeln- aber es war ein gezwungenes Lächeln. „Hallo Phoenix, mein Schatz! Du erkennst mich nicht mehr, nicht wahr?" Ihr Lächeln wirkte jetzt traurig. Doch, natürlich erkannte ich sie. Aber das musste eine Einbildung sein. Ich blinzelte ein paar Mal, aber die Frau verschwand nicht. „Ich kann dir alles erklären." Ich wusste wer sie war. Aber warum war sie hier? Das war doch nicht möglich! „Doch, ich... ich erkenne di-dich. Du... du bist....meine...M-mutter." stotterte ich. „Genau!" sagte sie freudestrahlend. „Und ich bin so froh dich wiederzusehen! Ich werde dir alles erklären. Sogar das", sagte sie und zog ihre Füße aus dem Wasser. Aber da waren keine Füße. Nur ein großer, violetter Fischschwanz.

Sie erzählte mir alles. Sie begann damit, dass sie Papa verlassen hatte, weil sie ihm ihre Geheimidentität nicht anvertrauen durfte: Sie war eine Meerjungfrau. Eine echte Meerjungfrau. Wie im Märchen. Sie musste sich vom Wasser fernhalten, denn wenn sie mit Wasser in Berührung kam, verwandelte sie sich innerhalb weniger Sekunden in diese Gestalt, die aber außer ihr keiner sehen durfte, weil irgendwelche Regeln dies verboten. „Aber warum erzählst du mir das erst jetzt?" fragte ich nach einiger Zeit. Meine Mutter seufzte. „Ich habe dir das jetzt alles erzählt, weil du der Erbe bist. Du hast dieses Gen in dir, das auch ich habe. Es passiert immer am 16.Geburtstag der Auserwählten. Ja, und jetzt bist du 16- und ich werde dich jetzt um etwas bitten." Sie holte tief Luft und es schien, als würde eine große Last von ihr abfallen, als sie weitersprach: „Du musst jetzt ins Wasser. Tauch unter und bleib dann-" sie stoppte. "Was 'dann'?" fragte ich nach einer kurzen Pause. Meine Mutter hob ein wenig verunsichert den Blick und sah mir direkt in die Augen. "Bleib... bleib einfach ein wenig unter Wasser, okay?"  Verwirrt stand ich auf, und stolperte fast über den Saum meiner langen Robe. „Soll ich das Kleid ausziehen?" „Egal. Wenn du es behalten willst, zieh es besser aus." Also stieg ich in Unterwäsche ins Wasser. Etwas angespannt watete ich hinein, bis mir das Wasser bis zum Bauch stand- dann tauchte ich unter. Ich war erst einige Sekunden unter Wasser, als plötzlich Hände nach mir griffen. Es waren schleimige Hände, die meinen Körper abtasteten. Ich riss die Augen auf und stieß einen stummen Schrei aus. Schließlich bekam eine Hand meine Haare zu fassen. Gleichzeitig versuchte eine andere, mir ein paar glibberige blaue Algen in den Mund zu stopfen. Es gelang ihr auch, und obwohl ich würgte und mir Tränen in die Augen schossen, schluckte ich die Algen versehentlich. Genauso abrupt wie sie gekommen waren, so verschwanden die Hände auch wieder. Mein Körper begann sich zu winden und zu krümmen. Ich spürte ein starkes Ziehen und Kribbeln in meinen Beinen. Ich sah an mir herunter. Meine Beine waren in beerenfarbige Schuppen gehüllt und verschmolzen mit einander. Meine Füße waren auf einmal Flossen und innerhalb weniger Sekunden hatte sich ein Fischschwanz wie der meiner Mutter gebildet. Er wurde allmählich heller und färbte sich schließlich zu einem tiefen Dunkelrot. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich kein Oberteil trug- anders als Mutter hatte ich keinen Muschelbikini und war obenrum komplett nackt. Ich beschloss aufzutauchen, es war ja doch keiner in der Nähe außer meiner Mutter. Als ich wieder über Wasser war, bemerkte ich, dass auch diese nicht mehr da war, ich war komplett alleine. Was hatte sie gesagt? „Wenn du aus dem Wasser kommst, musst du mindestens zehn Meter vom Meer entfernt sein, damit der Fischschwanz schnell wieder verschwindet, das dauert dann ungefähr dreißig Sekunden."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 02, 2015 ⏰

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The Ocean - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt