Kapitel 4

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Draußen fing das Meer wieder zu rauschen an. Die Bäume waren es offenbar leid, still zu stehen und fingen wieder an, sich mit dem Wind zu wiegen. Alles nahm seinen gewohnten Lauf, so, wie es schon immer gewesen war, und es schien, als hätte es nie eine Pause gegeben, nie ein kurzer Stopp in dem Drehbuch, nach dem diese Welt zu spielen schien. Die Zeitspanne zwischen diesen zwei Augenblicken war so unglaublich lang gewesen- als hätte man bei einer DVD die „Stopp"-Taste gedrückt und erst nach Stunden wieder eingeschalten...

Auch die Fratzen waren weg. Sie hatten keinerlei Spuren hinterlassen, keinen Abdruck auf meinem Fenster oder den Hauch des blauen Lichts, das sie ausgestrahlt hatten. Meine Augen hefteten immer noch auf diesem Fenster und ich konnte sie nicht abwenden. Vor allem das Gesicht der Frau hatte mich verstört. Es fühlte sich an, als hätte man mir eine Faust in den Magen gerammt. Das Gesicht hatte ausgesehen wie das meiner Mutter... was ich mir aber energisch auszureden versuchte. Meine Mutter konnte mit so etwas nichts zu tun haben.
„Hallo! Erde an Feeny! Hörst du mich?" Fabi wachelte mit ihrer Hand vor meinen Augen. Sie sah noch besorgter aus als zuvor, als ich nachhause gekommen war. Ich drehte nun endlich meinen Kopf zu ihr und sah ihr in die Augen. Und bemerkte erst jetzt, dass ich weinte. Anscheinend waren mir die Tränen schon länger heruntergelaufen, denn der obere Teil meines T-Shirts war durchnässt. Ich lächelte Fabi gequält an, sagte aber nichts sondern stand auf und machte mich wieder auf den Weg in die Schule. Es war kalt und ein eisiger Wind wehte. Ich steckte meine Hände in die Taschen des Parkas. Das salzige Wasser auf meinen Wangen brannte in der Kälte. Meine Schritte knirschten über den von Raureif überzogenen Dezemberblättern. Normalerweise war es in dieser Region nie besonders kalt, schon gar nicht hier bei uns. In der Ferne sah ich bereits das rote Schulgebäude aus Backstein.

Wie werden die anderen reagieren, wenn ich auf einmal einfach so verschwand und erst Minuten später wieder auftauchte? Mein Gehirn lief gerade auf Hochtouren. Es ratterte förmlich in meinem Kopf und versuchte, die Informationen irgendwie zu verbinden und zu entschlüsseln aber es gelang nicht. Ich brauchte Ruhe. Diese Erkenntnis brachte mich dazu, umzukehren, aber schon nach einigen Metern fiel mir ein, dass es klüger wäre, zuerst in die Schule zu gehen und mir irgendwelche Ausreden einfallen zulassen, um dann nach der Erlaubnis des Lehrers und dessen anteilnehmenden Kommentaren mit einer 'Grippe' nachhause geschickt zu werden.

Ich lief nun den Weg zur Schule. Die Autos fuhren heute rasend schnell. So als hätten alle vor, so schnell wie nur möglich diesen kleinen Ort zu verlassen. Ich überquerte gedankenverloren die Straße und ging die Treppen der Schule hoch bis zum Eingang. Wenig später stand ich vor meiner Klasse, holte tief Luft und betrat dann langsam die Klasse. Meine Augen nahmen die Umgebung wahr, aber erst Sekunden später registrierte ich, dass die Klasse leer war. Kein Lehrer, keine Schüler. Nur ein Heft auf einem Pult. Als ich näher kam sah ich dass es mein Biologie-Heft war. Biologie hatte ich gestern gehabt- in der ersten Stunde. Ich sah auf die Uhr. Es war fünf Uhr morgens. Das konnte nicht sein, die Schule hatte erst um halb neun begonnen. Ich bemerkte plötzlich ein kleines Zettelchen, dass aus dem Heft herausstand. Ich zog es heraus.

„Nicht vergessen: 31.Dezember, Mitternacht beim Leuchtturm! Sei pünktlich!"

Langsam ließ ich den Zettel in der Seitentasche des Parkas verschwinden. Forschend suchte ich das Klassenzimmer nach irgendwelchen weiteren Papieren ab, aber es war alles leer geräumt. Plötzlich hörte ich ein lautes Knirschen hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um und blickte direkt in ein Gesicht mit stechend türkisen Augen und kurzen schwarzen Haaren- es war der Neue, Lucas. Ich stolperte ein paar Schritte nach hinten und fing mich mit der Hand an einem der Pulte. „Ähm,... hallo...?" stotterte ich. Er sah mich ebenso verwirrt an, fasste sich aber schnell. „Hallo. Was machst du denn so früh hier?" „Ich..." ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte. Er würde mich für völlig durchgedreht halten, wenn ich ihm davon erzählen würde, dass die Zeit urplötzlich stehen geblieben war und dass anscheinend jemand die Zeit zurückgedreht hatte. Ich stammelte etwas von wegen, ich hätte mich in der Zeit verschaut und wäre versehentlich zu früh gekommen, aber ich spürte, dass er wusste, dass das nicht die Wahrheit war. Aber er fragte nicht nach. Stattdessen fragte ich nun ihn nach seinem Grund, warum er so früh hier war. Er erzählte mir, dass er ebenfalls viel zu früh losgegangen war. Und genauso wie er, wusste ich, dass es gelogen war, was er da von sich gab. Verlegen steckte ich meine Hände in die Seitentaschen des Parkas, murmelte ein kurzes „bis später" und drängte mich an ihm vorbei aus der Klasse. Und wieder ging ich den Weg nach Hause. Was war passiert? Diese eine Frage schwirrte schier unlösbar in meinem Kopf herum und war nicht auszutreiben. Ich konnte an nichts anderes denken. Wie im Traum überquerte ich die Straße, über die ich jetzt schon mindestens dreimal gegangen sein musste. Tatsächlich bemerkten mich zwei alte Damen, die schon vorher am Straßenrand gestanden waren und tuschelten. Schnell bog ich um die Ecke und lief den langen Strandweg entlang, vorbei an dem rauschenden Meer, direkt nach Hause. Ich blieb vor der Haustür stehen- ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Es war gestern- was hatte ich gestern um diese Uhrzeit gemacht? Schließlich drückte ich die Türklinge herunter. Leise schlich ich nach oben- und kehrte im selben Moment wieder um- Molly kam die Treppe herunter und war offensichtlich auf dem Weg zur Arbeit. Ich suchte mit meinen Augen panisch nach einer Fluchtmöglichkeit. Die Abstellkammer! Ich wollte die Tür aufreißen, aber diese klemmte. Wieder einmal. Hektisch versuchte ich die Tür aufzubekommen- es gelang mir in letzter Sekunde. Ich huschte in den kleinen, verstaubten Raum und schloss die Tür hinter mir. Aber ich hatte vergessen, das Licht einzuschalten. Meine Finger suchten an der kalten Wand nach einer Erhebung, die einen Lichtschalter hätte darstellen können. Im gleichem Moment hörte ich draußen Molly, die rief: „Dad, sind die Schuhe im Abstellraum?"

The Ocean - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt