»Wie möchtest du dieses Mal heißen? Wir haben etwa dreißig Minuten Zeit.«
Ich starre auf den stummen Fernseher. Das einzige Licht im Raum kommt von den blitzenden Bildern auf dem kleinen Bildschirm, der einen dieser alten Meg-Ryan-Filme zeigt, die die ganze Zeit laufen. Ein Film, den ich schon so oft gesehen habe, dass Ton unnötig ist.
Die anderen Male, als mir diese Frage gestellt wurde, habe ich mir den Kopf zerbrochen, um den perfekten Namen zu finden. Ich habe jeden verfügbaren Moment genutzt und ewig hin und her überlegt, um eine Entscheidung zu treffen.
Dieses Mal nicht.
»Meg«, antworte ich.
»Meg. Einfach nur Meg, oder vielleicht Megan und Meg als Spitzname?«
»Mir egal.«
»Was ist mit ihr?« Eine Hand deutet auf das Häufchen Mensch neben mir. Ich schlinge meinen Arm um den schlafenden Körper und widerstehe der Versuchung, ihn noch näher an mich zu ziehen.
Es ist sehr spät, irgendwann gegen drei Uhr morgens, und ich will sie nicht für das hier aufwecken müssen. Sie war stinksauer, als ich das letzte Mal die Entscheidung für sie getroffen habe. Ich hatte den Namen des falschen Mädchens ausgesucht, aus dieser Serie, die sie so gern mag. Zu ihrem Glück war das unsere kürzeste Identität.
Ich schüttle sie sanft.
»Hey«, flüstere ich. Man hat uns eingetrichtert, nicht unsere richtigen Namen zu benutzen. Nie. Da die Anzüge uns zusehen, kann ich überhaupt keinen Namen für sie benutzen. »Welchen Namen möchtest du? Ich will nicht wieder für dich aussuchen.«
Sie wirft sich hin und her, versucht aufzuwachen. Ihre Augen öffnen sich nur langsam. »Welchen hast du ausgesucht?« Ihre Stimme klingt heiser.
»Ich habe ›Meg‹ genommen.«
Auf ihrer zerknitterten Stirn zeichnen sich Linien ab. Es ist fast so, als könne ich die Rädchen in ihrem Hirn hören, wie sie die Möglichkeiten abklopfen. Jedes Mal, wenn sie eine Entscheidung wie diese treffen musste, hat sie eine ihrer Lieblingsfernsehfiguren gewählt. Keine Ahnung ob noch eine übrig ist, die sie noch nicht benutzt hat.
»Ist mir egal«, antwortet sie verstimmt.
Und schon schaltet sie wieder ab. Sie schließt ihre Augen und zieht die Knie an ihre Brust. Mein Hals schnürt sich zu. Ich hasse es, sie so zu sehen. »Was ist mit Mary? Du wärst eine niedliche Mary.«
Für einen weiteren Moment ist sie still, dann nickt sie mir fast unmerklich zu.
Falls sie den Namen nicht mag - ich bin mir sicher, wir ändern sie sowieso bald wieder. Wenn wir so weitermachen, haben wir bald ein Dutzend Namen durch. »Dann wären wir die M & M Mädels. Wie findest du das?«
Der Anflug eines Lächelns zieht über ihr Gesicht, bevor sie wieder wegdämmert. Ich beobachte sie ein paar Sekunden lang. Mit jedem Umzug wird sie stiller und ich habe Angst, dass sie bald gar nicht mehr redet. Sie benimmt sich nicht mehr wie eine Elfjährige. An den meisten Tagen braucht sie Hilfe, sich zu waschen und ihre Haare zu machen, als wäre sie fünf oder sechs. Und es ist nicht so, als wäre Mum dieser Aufgabe gewachsen.
Die Frau trommelt ihren Stift mit einem nervigen tip-tip-tap gegen ein Klemmbrett. Irgendwann hat sie mir mal ihren Namen gesagt, aber ich habe schon vor Monaten aufgehört, mir ihre Namen zu merken. Ich nehme meine Position von vorhin ein.
»Mary. Sie wird Mary heißen.« Ich bin erledigt. Leer.
»Irgendeinen bestimmten zweiten Namen?«
»Nein.«
»Also gut, Meg.« Und so einfach werden wir zu Meg und Mary. Bis zu unserem nächsten Umzug werden wir nicht anders genannt werden. »Das Einzige, was noch bleibt, ist euer Äußeres. Aus euren Archivdaten sehe ich, dass ihr - bis hierher - ohne größere Veränderungen ausgekommen seid. Tut mir leid, das zu sagen: So wird das diesmal nicht sein.« Sie geht tiefer in die Hocke.
»Ich habe ein paar Sachen mitgebracht. Wir können mit dir anfangen, dann kann Mary noch ein bisschen länger schlafen.« Sie rutscht auf dem Bett herum, bis sie den Fernseher verdeckt. Dann stellt sie ihre Füße fest auf den Boden und ballt die Hände in ihren Hüften zu Fäusten.
»Wir werden dir die Haare abschneiden und färben müssen. Ich habe auch Kontaktlinsen für dich mitgebracht, um deine Augenfarbe von blau zu braun zu ändern. Das wird hoffentlich reichen.« Sie redet langsam und zieht jede Silbe in die Länge, als rede sie auf einen alten Menschen ein oder ein kleines Kind.
Ich ignoriere sie und starre geradeaus, als könne ich noch immer die Bilder im Fernseher hinter ihr erkennen. Mein altes Ich hätte sich gewehrt. Meine Haare und meine Augen sind meine auffälligsten Merkmale, das weiß ich auch. Bis jetzt hatte ich nur meinen Namen verloren. Hiernach werde ich nicht mehr wiederzuerkennen sein.
In meinem Kopf zähle ich bis sechzig, bevor ich mich bewege. Zentimeter für Zentimeter gleite ich vom Bett, vorsichtig, um »Mary« nicht aufzuwecken. Ihr neuer Name passt nicht zu ihr, aber das wird sich in ein paar Tagen ändern. Das Bad ist klein und riecht nach Schimmel. Es gibt nur eine Lampe über dem Waschbecken. Eine einzelne nackte Glühbirne, die ein richtig hartes Licht abgibt, im Vergleich zu dem eher gedämpften im Schlafzimmer. Ich zwinge mich, die Schultern zurückzunehmen, und trete vor das Waschbecken.
Egal welche Veränderungen die Anzüge noch machen, das Mädchen im Spiegel ist nach diesem Umzug verschwunden. Weg. Mit jeder neuen Identität sind kleine Teile weggesplittert, aber das letzte große Stück ist in der Sekunde zerbrochen, als die Anzüge uns mitten in der Nacht aus unseren Betten gezerrt und uns in diesen fensterlosen Van geschubst haben. Keine Tränen nach diesem Verlust. Nicht nach allem anderen, das bereits verloren gegangen ist.
Mein langes blondes Haar ist dick und mit natürlichen Strähnchen durchzogen, die nur von Stunden in der Sonne kommen können. Es ist glatt und fällt bis unter meinen BH. Wunderschöne Haare.
»Schneiden Sie sie ab.« Meine Stimme ist fest.
Die Frau tritt von hinten an mich heran und nimmt meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Als sie alles in der Hand hat, rutscht sie noch ein wenig nach unten, lockert sie ein wenig. Sie zieht eine große Schere aus ihrer Tasche, holt tief Luft, als sehe sie ein, was für eine Farce das hier ist, und fängt an zu schneiden. Es dauert ein paar Augenblicke und sie braucht mehrere Versuche, aber schließlich ist der komplette Pferdeschwanz weg.
Sie hat die Haare, die immer noch zusammengebunden sind, in der Hand und hält sie mir hin.
Ich kann nicht hinsehen. »Werfen Sie sie einfach weg.«
Die Frau nimmt die Schere und schneidet hier und da kleinere Strähnen weg. Ich sehe zu, wie langsam ein kurzer Pixie-Cut zum Vorschein kommt. Sie legt die Schere wieder hin und greift in ihre Tasche. Sie zieht eine Packung Haarfarbe aus dem Drogeriemarkt heraus und studiert die Anleitung auf der Rückseite. In meinem früheren Leben hätte ich mich nie zu so etwas herabgelassen.
Ich werfe einen Blick auf die Box und lese den Namen der Farbe: »Doppelter Espresso«. Während die Frau die Farbe in meine Haare einarbeitet, entspanne ich meine Hände, die den Rand des Porzellanbeckens fest umklammert halten.
Nach dem Auswaschen kann ich einen ersten Blick auf meinen neuen Look werfen. Die Frau gibt mir ein Paar getönte Kontaktlinsen.
Sie demonstriert mir an ihren eigenen Linsen, wie man sie einsetzt und wie ich sie pflegen muss, wenn ich sie wieder herausnehme. Nach einigen Versuchen gelingt es mir, die Linse an die richtige Stelle zu setzen. Ich sehe mich eine Zeit lang im Spiegel an. Die Veränderungen haben mein Gesicht komplett verwandelt. Meine Augen wirken größer. Die Konturen sind stärker. Mein Gesicht sieht zu dünn aus. Die Frau hat recht - niemand aus meinem früheren Leben würde mich noch erkennen. Ich bin tatsächlich verschwunden.
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Spurlos
HorrorDiese Geschichte handelt von einem Mädchen. Einem Mädchen, die keiner kennt. Einem Mädchen, welches niemanden kennen will. Einem Mädchen, mit einer grauenhaften Vergangenheit...