REGEL 4
Benutze nur öffentliche Verkehrsmittel. Es ist die einzige Möglichkeit, um völlig uninteressant auszusehen. Außer du hast einen scheußlichen Kombi mit Holzvertäfelung. Das funktioniert auch.
Ich wache schweißgebadet auf. Das Zimmer ist dunkel, aber ich kann Teenys schlafende Gestalt im Bett neben mir ausmachen. Mein T-Shirt ist nass und meine Haare kleben an meinem Kopf. Ich ringe nach Luft. ›Es war nur ein Traum‹, sage ich mir immer und immer wieder. Es ist derselbe Traum, der mich seit Monaten heimsucht, in dem ich in einem Zimmer festsitze und Todesangst habe. In dem Zimmer befinden sich Menschen, aber ich kann nicht hören, was sie sagen. Es ist Wochen her, seit ich diesen Traum das letzte Mal hatte.
Meine Beine verfangen sich im Laken und schließlich falle ich aus dem Bett. Ich nehme mein Tagebuch aus der Tasche und beginne zu schreiben.
BLITZENDE LICHTER. ICH BIN GEFANGEN. ICH HABE ANGST. ICH KANN NICHT ATMEN. ES IST, ALS WÜRDE ICH ERTRINKEN.
Ich hoffe, dass mir das helfen wird, die Albträume irgendwie zu deuten. Doch alles, was ich daraus mitnehme, sind die blitzenden Lichter und das Gefühl, gefangen zu sein. Nicht überraschend, denn das ist genau so, wie sich das Zeugenschutzprogramm anfühlt. Als ich aufwache, verfliegen die Bilder.
Mein Hals brennt wie Feuer. Ich renne in die Küche, um etwas Wasser zu trinken und leere ein ganzes Glas in Sekunden. Erst als ich das Glas zum zweiten Mal fülle, erregt eine Bewegung meine Aufmerksamkeit.
Mir rutscht das Glas aus der Hand und es zerspringt auf dem Boden. Mum liegt über den Tisch gekrümmt. »Ich wollte dich nicht erschrecken.« Die Worte sind ein einziges Lallen.
»Mum, warum bist du noch auf?« Ich schaue auf die Uhr am Backofen. »Es ist zwei Uhr morgens.« Ich gehe auf Zehenspitzen um die Glasscherben herum und hole den Besen und die Kehrschaufel aus dem kleinen Schrank.
»Kann nicht schlafen. Vermisse mein Bett zu Hause. Nicht das gleiche hier.«
Ohne Quatsch. »Mum, du musst ins Bett gehen.«
»Ich habe euch Mädchen enttäuscht. Ich kann mich nicht einmal an die Namen erinnern, die sie euch gegeben haben.« Sie legt ihren Kopf auf den Tisch und schluchzt.
Wie oft haben wir so im Dunkeln gesessen? Ich möchte Mitleid mit ihr empfinden, aber ich habe keine Kraft mehr dafür. Ich fahre mit den Fingern durch ihre zerzausten Haare und versuche, ein paar der Knoten zu entwirren. Wenn ihr Gesicht nicht so kaputt von dem ganzen Alkohol wäre, dann wäre sie richtig schön. Die dunklen Haare stehen ihr so viel besser als das künstliche Blond vorher.
»Meg und Mary. Ich bin Meg. Meg Jones. Du bist Emily Jones. Dad ist Bill Jones. Wir sind in Louisiana.« Die ganzen Basis-Fakten unseres neuen Lebens hier zu hören, scheint sie genauso zu beruhigen wie Teeny heute Morgen. »Komm schon, Mum.«
Mum steht vom Tisch auf und ich lege ihr einen Arm um die Hüften. Sie lehnt sich an mich und es ist Schwerstarbeit, sie hochzuheben.
Sie zeigt mit dem Finger zum Kühlschrank, als wir daran vorbeigehen. »Wir haben nicht einmal Essen hier. Ich hätte früher niemals einen leeren Kühlschrank gehabt.«
»Ich weiß, Mum. Ich gehe morgen einkaufen. Lauf weiter, wir sind fast da.«
Wir stolpern beide in ihr Zimmer. Ich bin mir sicher, Dad ist bewusst, was hier vor sich geht, aber er bewegt sich nicht und macht keinen Mucks. Ich hätte das Licht anmachen und sie ihm überlassen sollen. Mum schnarcht schon leise, bevor ich sie überhaupt zugedeckt habe.
Mum ist heute Morgen aufgetaucht, mit roten, geschwollenen Augen, aber sie hat unsere Unterhaltung von heute Nacht nicht erwähnt. Dad hat einen Umschlag mit Essensgeld in meinem Zimmer hinterlassen, bevor er gegangen ist. Ich bin mir sicher, er wollte es Mum nicht anvertrauen. Lass mich »vor der Arbeit zum Supermarkt gehen und alle Einkäufe erledigen« zu meiner To-do-Liste hinzufügen. Aber andererseits gibt es ja auch noch Pizza.
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Spurlos
HorrorDiese Geschichte handelt von einem Mädchen. Einem Mädchen, die keiner kennt. Einem Mädchen, welches niemanden kennen will. Einem Mädchen, mit einer grauenhaften Vergangenheit...