REGEL 1

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REGEL 1

Lebe am Rand der Gesellschaft. Du solltest dich nicht in einem guten Viertel aufhalten, denn die Leute dort mischen sich alle in deine Angelegenheiten ein und wollen alles über dich wissen. Und du solltest auch in keinem schlechten Viertel sein, weil ... na ja, weil es schlecht ist. Wenn du schon das alles auf dich nimmst, um dich vor den bösen Jungs zu verstecken, dann wäre es wirklich scheiße, erschossen zu werden, nur weil du in einer schäbigen Gegend wohnst.

Mein Dad nennt nie jemanden bei seinem richtigen Namen. Männern, mit denen er gearbeitet hat, Leuten aus unserer Nachbarschaft und jedem Typen, mit dem ich je ein Date hatte, hat er irgendeinen dummen Spitznamen gegeben. Die schlimmsten waren: Kumpel, Sportsfreund und Buddy. Es ist einfach schrecklich, wenn dein Date dich abholen kommt, und dein Dad ihm ein paarmal kumpelhaft auf den Rücken klopft und ihm irgendeinen echt dämlichen Namen gibt. Ich fand das immer unhöflich. Als würde er sich nicht auf das Niveau begeben wollen, sich die richtigen Namen zu merken. Meine Schwester und ich haben auch Spitznamen. Der von meiner Schwester ist ganz süß – Teeny Tiny. Sie wog cirka vier Pfund, als sie geboren wurde. Es macht nichts, dass sie inzwischen größer als die meisten Mädchen ihres Alters ist; für Dad bleibt sie immer Teeny Tiny.

Meiner wiederum ist nicht gerade originell. Ich bin Sissy. Ja, Sissy, von Sister. Dad hat damit angefangen, mich so zu nennen, als Teeny geboren wurde, da ich ja ganz offensichtlich die große Schwester war. Ich habe diesen Spitznamen immer gehasst und schämte mich wahnsinnig, wenn Dad mich vor meinen Freunden so genannt hat, aber das ist jetzt anders.

Mit jedem neuen Umzug kamen neue Namen, aber die Spitznamen sind geblieben. Wir benutzen sie nur, wenn wir vier unter uns sind. Die Anzüge würden ausflippen, aber was solls? Dieser blöde Spitzname ist wirklich wichtig geworden; er ist das Einzige, was mich noch mit meiner Vergangenheit verbindet.

Ich drehe mich um und beobachte Teeny. Sie hat nicht mehr Interesse an ihrem Haarschnitt und der Farbe gezeigt, als ich es getan habe. Tatsächlich hat sie ihre Augen nicht ein einziges Mal in Richtung Spiegel bewegt. Wenigstens ist Teenys neuer Style nicht so heftig wie meiner. Die Frau hat Teeny einen kurzen Bob verpasst, der ein paar Zentimeter unter ihre Ohren fällt. Wir ähneln uns in vielem mit den blonden Haaren und der natürlich gebräunten Haut, aber ich bin die Einzige, die blaue Augen hat. Teenys sind hellbraun und zum Glück muss sie sich nicht mit den Kontaktlinsen herumschlagen.

»Denkst du, sie haben das mit Mums Haaren auch gemacht?« Teenys Stimme klingt hohl.

Wir haben unsere Eltern nicht mehr gesehen, seit wir in diesen geheimen Unterschlupf gebracht wurden. Normalerweise besprechen sich die Anzüge immer für einige Zeit mit ihnen, wenn wir eine Station verlassen haben. Ich denke, um herauszufinden, was es ist, das immer wieder schiefläuft, aber so lange wie dieses Mal waren meine Eltern noch nie weg.

»Wahrscheinlich. Ich bin sicher, wir passen alle zusammen mit unseren dunklen Haaren, so wie es eben war, als wir noch blond waren.«

Mein Dad hat die gleichen blonden Haare wie Teeny und ich, aber Mum muss nachhelfen, um sich uns anzupassen. Ich denke, sie wollte nicht die Einzige sein, die nicht blond ist. Diese dunkle Farbe ist wahrscheinlich näher an ihrer normalen Tönung, aber das ist nur eine Vermutung, denn ich kenne ihre natürliche Haarfarbe nur von alten Fotos.

Ich lasse mich aufs Bett fallen und fahre mir mit den Händen über die Augen. Ich bin fertig. Jedes Mal, wenn ich einschlafe, werde ich von Albträumen heimgesucht, und wenn ich aufwache, höre ich, wie sich Teenys und meine Schreie vermischen. Keine Ahnung, wer zuerst damit anfängt, aber es macht mir echt Angst.

Die Frau kommt zurück und reicht mir einen Zettel. Ich hasse das, was jetzt kommt. Tagelang werden sie uns unsere neue Vergangenheit und Namen einschärfen.

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