REGEL 5
Trete keinen Clubs, Tanzgruppen oder irgendeiner anderen lustigen organisierten Gruppe in der Schule bei. Dies führt nämlich zu Freundschaften und zu wirklich unangenehmen Fragen wie: »Was ist denn mit deiner Mutter los?«
Zu sagen, es war kein guter Tag, wäre ungefähr wie zu sagen, dass die Titanic einen kleinen Unfall hatte. Meine neue Erzfeindin hat den ganzen Tag über keine Gelegenheit versäumt, abfällige Bemerkungen über meine Haare, Klamotten und generelle Existenz zu machen. Und dann musst. ich einfach etwas ebenso Hässliches erwidern. Der Krieg hat offiziell begonnen.
Gestern Abend hatte ich erwartet, dass Ethan bei Pearl's auftaucht. Jedes Mal, wenn die Tür läutete, stellten sich mir die Nackenhaare auf. Aber er ist nicht gekommen und das war fast noch schlimmer. Der Gang von Pearl's nach Hause war brutal – drei Blocks in der eisigen Kälte. Ich muss mir ein Paar Handschuhe kaufen, sonst kann es gut sein, dass meine Finger abfallen.
Ich erklimme die Stufen zur Haustür, die paar Einkäufe schleppend, die ich von dem Laden in der Nähe von Pearl's ergattern konnte.
»Wo warst du?«
Ich falle fast hintenüber. Dad sitzt auf der obersten Stufe.
Ich halte die Tüten hoch – ist doch offensichtlich.
»Ich dachte, du kommst direkt heim. Das war die Abmachung dafür, dass du heimläufst.« Er steht auf und nimmt mir ein paar der Tüten ab. »Teeny ist weinend in ihrem Zimmer eingeschlafen. Sie dachte, du kommst nicht mehr zurück.«
Ich folge ihm ins Haus, stelle die übrigen Tüten auf dem Tisch ab und schaue auf die Uhr.
»So spät bin ich doch gar nicht. Hast du versucht, sie davon zu überzeugen, dass alles okay ist?«
Dad hat chinesisches Essen zum Abendbrot mitgebracht und die leeren Behälter sind über die ganzen Arbeitsflächen verteilt. Ich werfe den Müll weg, während Dad die Lebensmittel wegräumt.
»Natürlich. Aber sie wollte nicht mit mir reden. Sissy, wir sind nicht im Urlaub. Du musst vorsichtig sein. Geh nirgends hin, wo du nicht unbedingt hinmusst.«
Ich verziehe mein Gesicht zu dem schlechtesten überraschten Gesichtsausdruck, den ich hinkriege, und sage: »Was? Du meinst, diese Scheißhütte ist nicht Teil des Four Seasons? Schockierend.«
Er antwortet nicht, sondern geht einfach in sein Zimmer, als wir mit dem Wegräumen fertig sind. Gott, was für ein Arschloch.
Ich springe unter die Dusche, und erst als das heiße Wasser über mich strömt, wird mir wärmer. Dad macht mich wahnsinnig. In unserem alten Leben hatte ich jede Menge Freiheiten und konnte im Prinzip kommen und gehen, wann und wie ich wollte. Mum war immer unterwegs und tat das, was Mums, die nicht arbeiten, eben so tun. Und Dad war arbeiten. Die ganze Zeit. Als wir in dem Programm landeten, entwickelten meine Eltern mehr Interesse daran, wo ich mich herumtrieb, versuchten aber immer noch, so zu tun, als sei alles normal. Das ist übrigens das Motto der Anzüge: Tu so, als sei alles normal. Aber Dad verhält sich nicht normal.
Nach der Dusche gehe ich ins Bett. Kaum habe ich die Decke über mich gezogen, höre ich Teeny flüstern.
»Sissy, bist du das?«
»Ja. Ist alles okay?«
Sie steht von ihrem Bett auf und hüpft in meines. »Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?« Sie wartet nicht auf meine Antwort, sondern kuschelt sich einfach unter meine Decke.
Ich kann nicht Nein sagen, obwohl es ein Einzelbett ist und keiner von uns gut schlafen wird, wenn wir beide in einem Bett sind.
Sie macht es sich neben mir gemütlich. »Ich dachte, dir wäre etwas passiert.«

DU LIEST GERADE
Spurlos
HororDiese Geschichte handelt von einem Mädchen. Einem Mädchen, die keiner kennt. Einem Mädchen, welches niemanden kennen will. Einem Mädchen, mit einer grauenhaften Vergangenheit...