Prolog

566 84 51
                                    

Prolog

Der Hebamme entfährt ein Freudenschrei. Sie nimmt das Kind hoch, wackelt hinüber zu dem Pott, der voll mit warmem Wasser ist und taucht es hinein. Vorsichtig hält sie den kleinen Neuankömmling auf einem Arm, mit der freien Hand nimmt sie etwas Wasser aus dem Becken und lässt es über das Kleine fließen.

Die Anderen kümmern sich um die Mutter. Der Vater wartet draußen.

Das Baby schreit, doch die beruhigenden Bewegungen der Hebamme lassen es langsam verstummen. Die Jüngste ist dabei, Tücher, Windeln und Salben vorzubereiten.

Nachdem sie den Säugling gewaschen hat, wird es gewogen. Eine gesunde Zahl erscheint auf der Waage. Nicht zu viel, nicht zu wenig.

Die Jüngste nimmt es aus der Waage und cremt es mit den duftenden Kräutermischungen ein. Danach die Windeln. Ihre Hände zittern ein wenig, als sie das Kind behutsam in die Tücher wickelt.

Es ist nicht das erste Kind der Hebamme, aber sie ist erschöpft. Sie kann die Jüngste verstehen, dass sie zittert. Sie beobachtet die beiden, ihr Blut rauscht ihr in den Ohren. Sie weiß genau, was zu tun ist, hat es schon so oft getan. Jetzt bringt die Jüngste das Kleine zur Mutter. Diese lächelt, doch auch sie ist aufgezehrt.

„Ein Junge", haucht die Jüngste und drückt der Mutter einen Kuss auf die Stirn. Sie ist auch ihre Mutter. Es ist ihr fünftes.

Es klopft. Die Gelehrten, wie sie sich nennen. Die Hebamme watschelt hinüber zur Tür. Bis zur Entbindung darf kein Mann den Saal betreten. Jetzt kommen sie. Werden den armen Jungen ansehen, untersuchen. Sie haben keine Ahnung, denkt die Hebamme. Wollen nur zuordnen. Würdigen die Schmerzen der Mutter nicht.

Der Erste betritt den Raum. Die Anderen schrecken zurück.

„Ein Junge", sagt die Hebamme bestimmt. Der Zweite beugt sich über die Mutter, das Kind hat wieder begonnen zu schreien. Hinter dem Fünften lugt der Vater hervor. Er will seinen Sohn sehen, natürlich, wie auch sonst?

„Wir werden eine Stunde warten", grollt der Erste. Eine Stunde. So wie sonst auch. Die fünf Gelehrten ziehen sich zurück, der Vater stürmt an das blutige Bett der Mutter. Sie ist blass, aber sie wird sich wieder erholen. So wie sonst auch. Die Jüngste sieht ihre Eltern mit wehleidigem Blick an. Sie darf sich nicht von der Arbeit ablenken. Sie ist bloß Anthrazit.

Die Anderen bringen der Mutter frische Wäsche. Helfen ihr beim Aufstehen, während der Vater seinen Sohn auf dem Arm hat. Die Mutter streift sich das blutige Hemd über und zieht das Frische an. Sachte legt sie sich in das zweite Bett, das eine der Anderen heran geschoben hat. Die Hebamme beobachtet alles argwöhnisch. Der Vater legt das Kind neben die Mutter, lächelt die ganze Zeit über. Die Jüngste dreht sich weg. Sie hatte nie das Gefühl, dass ihre Eltern über sie so glücklich seien. Sie wird immer bloß Anthrazit bleiben.

Irgendwann kommen die Gelehrten wieder. Sie betrachten den Vater skeptisch. Die Mutter ist in einen leichten Schlaf gefallen. Der Erste nimmt den Jungen an sich, nickt der Hebamme zu und verschwindet mit dem Kind. Jetzt wird er untersucht, die Anderen und sie werden ihn dann wieder beruhigen müssen. So ist es immer.

Die Hebamme spürt, dass die Jüngste Angst vor dem Ergebnis hat. Doch sie darf sich nicht einmischen. Die Jüngste muss lernen, was es heißt, zu akzeptieren.

Die Gelehrten brauchen heute länger als sonst. Normalerweise zehn Minuten. Jetzt sind es schon vierzehn. Nach siebzehn Minuten hört man die eilenden Schritte. Ohne zu klopfen öffnen sie die Tür. Der Erste mit dem Jungen auf dem Arm.

„Er ist Enzian-482-319!", verkündet er strahlend. Dem Vater läuft eine Freudenträne über die Wange, die Mutter, die aufgewacht ist, lächelt zurückhaltend.

Die Jüngste bricht zusammen. Das war, was sie befürchtet hatte.


FarbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt