Kapitel II

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Kapitel II

Langsam öffnete Mia ihre Augen. Sobald sie klar sehen konnte, erkannte sie, wo sie lag. Ein Krankenzimmer. Selten schlief sie in solch weichen Matratzen. Selten waren die Wände so weiß. Sie hörte Stimmen. Nach und nach wurden sie immer deutlicher. Ihre Eltern.

„Collin, wir müssen es ihr sagen!" Ihre Mutter. „Nein! Sie ist noch nicht alt genug!", auch ihr Vater klang energisch. Aber, von der Tatsache abgesehen, dass ihre Eltern über irgendein Geheimnis redeten, war irgendetwas komisch. Etwas stimmte nicht.

„... glaubst, Pernilla! Es ist mir egal!" Was war es? Was war der eine kleine, aber sehr bedeutende Unterschied zu normalen Streits zwischen ihren Eltern? Sie konnte es sich nicht erklären, es fühlte sich an, als wüsste sie die Antwort, konnte sie aber nicht denken, geschweige denn laut aussprechen.

Scharf atmete ihre Mutter ein, mit Blick zu Mia. Ihre Eltern kamen zögerlich auf sie zu.

„Schatz, wie lange bist du schon wach?", fragte Pernilla.

„Vielleicht... ein paar Minuten?"

„Wie lange?", drängte sie, „ein paar Minuten, wie fünf Minuten, wie zwei Minuten, wie zehn? Sag es mir, Mia! Wie lange bist du wach?"

„Ich weiß es nicht! Zwei, drei, keine Ahnung!"

„Mia...", ihr Ton klang drohend.

„Pernilla, lass sie schlafen!", schaltete sich nun auch Collin ein. „Sie war ohnmächtig! Was denkst du, wie viel sie mitbekommen hat? Den letzten Satz vielleicht? Lächerlich! Leg dich wieder hin, Kleine", fügte er noch hinzu.

Entschieden klopfte es an die Tür und ohne auf eine Antwort zu warten, trat einer der Gelehrten ein – der Erste.

„Enzian-482-319, Magenta-468-17, Flieder-269-163", begrüßte er die drei, nickte jedem einmal zu. „Wir müssen die Ursache herausfinden, warum du ohnmächtig geworden bist. Kannst du dich an irgendetwas erinnern? An ein Ereignis, an jemanden, den du gesehen hast?", fragte er mit prüfendem Blick.

Er heißt Ocker-153-346. Was fällt dir daran auf? Mhmm?

Mia erinnerte sich an absolut alles. An das schreckliche Lächeln ihrer Mutter, daran, wie sie Sams Familie angestarrt hatte. An die Brötchen auf ihrem Teller. An jemanden, dessen Namen sie vergessen hatte, der sich aber eindeutig den Schweiß von der Stirn gewischt hatte. An Tilas sorgfältig gezupfte Augenbrauen. An absolut alles.

„Nein, ich... ich glaube, ich habe alles vergessen... Ich kann mich nur noch an... Tila erinnern, an ihre Augenbrauen", log Mia. So sehr sie der Verrat ihrer Mutter geschockt hatte, sie würde sie nicht verraten.

Blut ist dicker als Wasser, hatte Sam mal gesagt. Blut ist dicker als Wasser. Das stimmte. Die Flüssigkeit Blut war tatsächlich dicker als Wasser. Angewidert verzog sie das Gesicht. Das hieß nicht automatisch, dass Blut auch besser als Wasser war.

„Mhmm", machte der Gelehrte. „Wir sollten darauf warten, ob du dich im Lauf der nächsten Tage erinnern kannst. Ansonsten müssen wir uns an deiner übrig gebliebenen Erinnerung entlang hangeln und langsam alles ausgraben. Verstehst du das?"

„Muss das sein? Wenn ich von etwas ohnmächtig geworden bin, ist es dann nicht so schlimm, dass ich mich gar nicht daran erinnern möchte?"

„Mhmm", wieder dieses Geräusch, wie von einer schrecklich nervigen Fliege. „Du willst dich also nicht erinnern? Das ist...nicht gerade die Regel."

Mias Blick traf sich mit dem ihrer Mutter. Diese sah sie mit einem Blick an, der jede schrecklich nervige Fliege tot von der Wand hätte fallen lassen. Durchbohrend, berechnend. Erschreckend.

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