Kapitel I

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Kapitel I

„Komm schon, Sam!", rief sie, während sie über die Hügel rannte und sich lachend auf den Boden fallen ließ. Sie kreischte, als ihr bester Freund sie hoch nahm, sich über die Schultern warf und in Richtung See hetzte. Kaum dort angekommen, warf er sie in die kalten Nässen und jagte wieder davon. Sie drehte sich im Wasser um und tat so, als sei sie tot, doch er wusste, dass sie ihn nur dazu bringen wollte, auch in den See zu kommen. Das tat sie ständig. Als er zehn war, ist er darauf hereingefallen, doch mittlerweile, sechs Jahre später, ließ ihn diese Art von Tricks schon lange kalt. Er hasste das Wasser.

„Mia!", meinte er entrüstet, „du weißt genau, dass ich dich nicht aus dem Wasser retten werde!"

Sie hob ihren Kopf und sah ihn an: „Ich kann dich nicht hören!" Sie zog das ö extra in die Länge, was ihn zum Lachen brachte. Sam rannte wieder ans Ufer und griff sich eine Hand von dem Sand, der so weich war wie Katzenfell. Als er sie damit bewarf schrie sie wieder auf und kam aus dem Wasser. Sie schaufelte sich eine Hand damit voll, versuchte, ihn damit zu treffen, doch er wich aus. Mia rannte auf ihn zu und warf ihn in das trockene Gras. Er lachte, oder hatte gar nicht damit aufgehört.

Plötzlich hörten sie eine gellende Stimme, so viel härter als ihr wunderbar helles Gelächter.

„Ocker-153-346 und Flieder-269-163! Kommt sofort hierher!", es war die Stimme von Mias Mutter, die sich anhörte wie das Kratzen von einem Nagel über eine Tafel. Natürlich hießen die beiden nicht wirklich Mia und Sam, die Namen hatten sich im Laufe der Zeit ergeben, weil es immer so anstrengend war, ihre Zahlen zu sagen. Das machten viele so, nur nicht die Eltern von Mia. Sie benutzten stets die korrekte Zahlenkombination.

„Was denn, Mama?"

„Du, Ocker-153-346, bist für den Steinbruch eingetragen, nicht um diese unflätigen Faxen hier zu machen, und du, liebste Tochter solltest gerade dabei sein, Essen für knapp 900 Personen vorzubereiten!" Während sie sich zuerst an Sam wandte sah sie ihn abfällig an. Ihr war es nicht geheuer, dass ihre Tochter zu einem Jungen aus einer unteren Riege so viel lachen konnte. Sie war Magenta, ihre Tochter sollte sich gefälligst an die Familienbande halten. „Zack zack", zischte sie noch, bevor sie wieder Richtung Wohnhöhlen verschwand.

Mia seufzte ungehalten und verabschiedete sich nur mit einem traurigen Blick aus ihren fliederfarbenen Augen, die er so klug und wunderschön fand, wie er es eigentlich nicht sollte. Du bist ihr bester Freund! ermahnte er sich immer wieder, doch natürlich war es vergebens. Da ging sie, ohne sich umzudrehen, sie war so frei und stark wie er es niemals sein könnte. Er wusste, dass sie sich spätestens beim Essen wieder sehen würden, aber das war nicht früh genug. Sam wollte sie jetzt küssen, ganz egal was ihre Mutter sagte. Aber das ging nicht. Sie würde sich niemals in seinen hässlich schmutzigen ockerfarbenen Augen verlieren, die gerademal aussahen wie ein benutzter Küchenlappen.

Mia ging traurig durch die trockenen Weiden, entsetzt darüber, wie harsch ihre Mutter geklungen hatte. Nur selten wurde sie in diesem Ton angefahren, und ihr war auch nicht der Blick entgangen, den ihre Mutter Sam, ihrem besten Freund seit Kindertagen, zugeworfen hatte. Sie ist schwanger, redete Mia sich ein, so verhalten sich schwangere nun mal. Doch das stimmte nicht. Einzig und allein die Mutter wusste um ihren Zustand, nicht einmal der Vater durfte ahnen, dass sie das Kind verloren hatte.

Auf dem Weg in die Küchen verlor Mia sich in Gedanken, sie betrachtete die Tropfen, die nacheinander an ihrer Haut hinunter liefen, überlegte, warum Sam das Wasser so sehr verabscheute. Es war doch wunderbar, abends wenn die Sonne unter ging, noch einmal in den See zu springen und sich die Lasten des Tages von den Schultern zu waschen. Sie verstand einfach nicht, warum er so kleinlich war. Manchmal nervte es sie, dass er ein Jahr älter als sie war, und Mia nicht herausfinden konnte, was in diesem einen Jahr Unterschied so einschneidendes passiert war, dass er nicht mit in den See kommen wollte. Und sie wusste genau, dass dieses etwas nur in diesem einen Jahr passiert sein konnte. Danach kam ja sie. Es konnte keine andere Möglichkeit geben.

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