„Warum sollten wir nicht in die Hungerspiele gehen? Ich habe mich schon so lange darauf vorbereitet! Ich mache keinen Rückzug!", motzt Orchidra. Roses starrt mich nur stumm und mit offenem Mund an.
„Orchidra, das willst du nicht wirklich! Wenn du in die Arena gehen würdest, würdest du schon am zweiten Tag merken, dass du das nicht willst!", versuche ich ihr beizubringen.
„Wieso, Baria? Was würde dann geschehen? Was macht das aus?", mischt sich Roses jetzt ein.
Wäre ich auch so gewesen? Hätte ich auch so reagiert, wenn jemand das zu mir gesagt hätte, bevor ich in die Spiele ging? Hätte ich es so sehr gewollt, dass mir ein gut gemeinter Rat egal wäre?
„Ich war in den Hungerspielen! Ich weiß, wie es dort ist! Ihr wollt das nie erleben!", erwidere ich.
„Baria, was ist daran denn so schlimm?", fragt Roses langsam.
„Ihr wisst, dass die Menschen aus den Karriero-Distrikten die einzigen sind, die das nicht schon vorher wissen? Kein anderer würde so eine Frage stellen!", erzähle ich.
„Ja, weil keiner von denen eine Chance hat, Eno. Ist das der ganze Grund? Deshalb willst du nicht, dass wir in die Hungerspiele gehen?", antwortet Orchidra überheblich.
„Es steckt noch viel mehr dahinter, als nur die Überlebenschancen. Bist du in der Arena, glaubst du der Sieg würde etwas verbessern. Aber das tut es nicht. Du wirst das ganze nie los. Das Kapitol verhindern, dass du das vergessen kannst. All die Toten siehst du jede Nacht. Ob Freund oder Feind, ob Verbündeter oder Gegner. Du siehst ihre Gesichter. Du siehst die Leben, die sie hätten haben können, wenn du nicht gewesen wärst. Du siehst, was du angerichtet hast. Du hast getötet, weil du dein Leben für wichtiger gehalten hast, als das Leben anderer. Und du verstehst, dass keiner wirklich lebend da raus kommt. Orchidra, Roses, ich will nicht, dass euch das passiert! Ihr seid meine Geschwister, ich liebe euch! Ich will nicht, dass euch etwas passiert!", erkläre ich ihnen.
Ich weiß noch, wie ich meine Schwester zum ersten Mal gesehen habe.
Ich war dreizehn und sehr aufgeregt. Eine kleine Schwester! Meine Mutter kam mit ihr im Arm nach Hause und Dad lief neben ihr her. Ich rannte auf Mama zu und versuchte, einen guten Blick auf meine Schwester zu haben.
„Ganz ruhig, Prim! Lass uns erstmal ankommen!", sagte Mom. Meine Eltern schlängelten sich nur mit Mühe an mir vorbei, um ins Wohnzimmer zu gelangen. Mom und Dad setzten sich aufs Sofa und ich setzte mich sofort zwischen die beiden.
Ich sah das kleine Mädchen an. Sie war so süß und winzig und hatte einen merkwürdig festen Blick. Sie hatte süße, kurze, braune Locken auf den Kopf und ihre blauen Augen strahlten zu mir hinauf. Ihr Haut strahlte rosig. Sie hatte genau die Farbe der weiß-rosa Orchideen, die im ganzen Haus verteilt waren und sind. Sie sah perfekt aus. Wunderschön. Ich konnte mir nichts süßeres vorstellen. Die kleine hatte schon mein Herz gestohlen und ich hatte sofort einen Beschützerinstinkt entwickelt.
„Willst du sie halten?", fragte meine Mutter. Ich nickte.
Sie gab mir das kleine Mädchen und ich hielt sie ganz fest. Mom hatte ihre Arme zur Sicherheit unter ihr, doch das war nicht nötig. Ich hatte sie und ich ließ sie nicht los.
„Willst du ihren Namen wissen?", fragte mein Vater liebevoll.
„Ja.", flüsterte ich.
„Wir nennen sie Orchidra. Nach einer Orchidee, weißt du? Weil sie so hübsch und robust, so zierlich und doch so stark ist. Sie ist klug. Genau wie du es warst, Enobaria Primrose.", erklärte Dad.
„Orchidra. Sie ist wunderschön!", flüsterte ich. „Ich passe auf dich auf, Orchidra. Ich werde dich beschützen. Immer!"
Niemand weiß es, aber ich bin wegen ihr in die Hungerspiele gegangen. Ich wollte Orchidra ein Leben im Dorf der Sieger ermöglichen. Wäre sie nicht geboren, hätte ich jemand anderen gehen lassen. Jemand stärkeren. Nur wegen ihr habe ich mich drei Jahre hintereinander freiwillig gemeldet, bis ich endlich tatsächlich genommen wurde. Hier gibt es mehr Freiwillige pro Jahr, als Sieger überhaupt.
„Wieso hast du uns das nicht früher gesagt? Vielleicht vor zwölf Jahren, ider so? Warum erst jetzt?", fragt Orchidra mich und Roses nickt.
„Weißt du noch, was ich zu dir gesagt habe, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe?", frage ich zurück.
„Ja. Das sagst du mir zu jedem Geburtstag. Dass ich wunderschön bin...", antwortet sie.
„Und weiter?", unterbreche ich.
„Ich passe auf dich auf, Orchidra. Ich werde dich beschützen. Immer! Das sagst du immer.", sagt sie leise. „Aber anscheinend hast du das die letzten fast dreizehn Jahre nicht getan!"
„Genau! Du verschweigst uns diese wichtige Information! Was verschweigst du uns noch alles? Wann hättest du uns noch beschützen können?", mischt Roses sich nun ein. In meinen Augen bilden sich Tränen.
„Indem ich euch das nicht gesagt habe, habe ich euch beschützt! Ihr versteht nicht, wie sehr ich euch liebe!", antworte ich.
„Wie sollen wir dir je glauben? Du hast uns fast dreizehn Jahre angelogen! Das ist fast mein ganzes Leben! Wie konntest du das tun, Enobaria? Wieso hast du uns das nicht gesagt?" In Roses Stimme klingt Wut und Enttäuschung mit.
Seine Anklage trifft mich härter als alles andere. Ich habe das für sie getan! Ich wollte sie schützen, ihre Leben retten! Dafür hassen sie mich.
„Ich durfte euch das nicht sagen. Sie..."
„Du DURFTEST nicht? Aber jetzt darfst du? Seit wann interessiert es dich, was du darfst? Du hast immer getan, was du wolltest! Die Regeln waren dir egal! Wann hat sich das geändert? Wann sind dir die Regeln wichtiger geworden, als ich? Als Orchidra? Als Mom und Dad? Wann sind wir dir zur Last geworden, dass du uns nicht vor den Hungerspielen warnst? Dass wir nicht einmal in dein Haus dürfen? Dass du uns nur noch so selten besuchst? Wann?", schreit er und fängt zu weinen an.
Ich kann darauf nicht antworten. So sieht er das? Er denkt, er wäre mir egal? Er wäre eine Last für mich?
„ANTWORTE MIR!!! Wann?", brüllt er.
„Roses, du verstehst das nicht...", versuche ich zu erklären.
„Was verstehe ich nicht? Stehen wir deinem Ruhm im Weg? Ist es das? Darf die großartige Enobaria Primrose Mordetis, Siegerin der 62. Hungerspiele, keine Steinmetz-Familie haben? Schadet das deinem Image?", brüllt er weiter. Orchidra und ich stehen erstarrt daneben.
„Ich wusste es! Ich habe es immer gewusst! Ich habe mir eingeredet, du könntest nichts dafür, du hättest keine Zeit. Dabei willst du nur nichts mit uns zutun haben! Du wolltest, dass wir in die Hungerspiele gehen und sterben!", redet er sich nur noch mehr in Rage.
„Nein, Ro! Du begreifst...", versuche ich ihn zu unterbrechen.
„Ich will nicht mehr mit dir reden! Ich will dich nie wieder sehen! Ich wünschte, du wärst in den Hungerspielen gestorben!" Damit dreht er sich um und stampft zum Haus zurück. Ich stehe stocksteif da, unfähig mich zu bewegen. Denkt er das wirklich? Denkt er wirklich, ich wäre so? Hält er mich für so oberflächlich und falsch?
Plötzlich kann ich mich wieder bewegen und will ihm folgen.
„Ro! Warte doch! Roses!", schreie ich, als mich jemand am Handgelenk packt. Ich sehe mich um und sehe Orchidra. Sie weint auch. Sie habe ich total vergessen.
„Das ist wahr, oder? Er hat recht, nicht wahr? Wir sind dir egal!", flüstert sie mit erstickter und doch kräftiger Stimme.
Ich drehe mich zu ihr um.
„Nein. Das ist nicht wahr."
„Wehe, du lügst mich an! Ich will die Wahrheit wissen!", sagt sie streng.
„Ich lüge dich nicht an. Ich habe all das getan, um euch zu beschützen. Hätte ich etwas gesagt, hättet ihr davon irgendetwas mitbekommen, hätte Snow euch getötet.", gestehe ich. Das wollte ich schon all die Jahre sagen.
Geschockt starrt Orchidra mich an.
„Er will den Menschen hier weiß machen, dass die Hungerspiele toll sind, aber das sind sie nicht. Wir sind ihm am wichtigsten. Er braucht Distrikt 2 auf seiner Seite, damit nicht nochmal sowas geschieht, wie die dunklen Tage. Er hätte nie zugelassen, dass ich jemanden warne. Und mich kann er nicht töten. Ich bin eine Siegerin. Ich stehe zu sehr in der Öffentlichkeit. Deshalb bedroht er euch.", erkläre ich.
„Aber wieso sagst du uns das jetzt? Wird er uns dann nicht umbringen?", fragt sie.
„Besser tot als in den Hungerspielen. Du willst unbedingt in die Spiele und das darf ich nicht zulassen. Ich liebe dich, Orchidra.", flüstere ich.
Wir sehen uns noch eine Weile sehr intensiv in die Augen. Mit genau diesem Blick hat sie mich das allererste mal angesehen. So intensiv und fest, als wäre sie eine so reife Person. Viel zu erwachsen für so ein kleines Kind. Dieser Blick hat mich vom ersten Tag an gefesselt. Dann sagt sie: „Ich spreche mit ihm.", sie dreht sich um und geht ins Haus.
Es ist wahr. Ich habe meine Familie die letzten dreizehn Jahre weitgehend ignoriert. Ich habe mich von ihnen distanziert, aber nur um sie zu schützen! Ich war für Roses eine furchtbare Schwester.
Es beginnt zu regnen.
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Pausiert trügerischerSchein: DieTribute vonPanemGefährliche LiebeEnobarias Sicht
FanfictionZur Adoption freigegeben Wie ist Enobaria wirklich? Das mordlustige Mädchen aus 2, oder versteckt sich hinter der Fassade noch jemand anderes? Wieso will sie (Spoiler) sie es ,,ihnen mit gleicher Münze heimzahlen"? Ich zeige euch hier, dass Enobari...