Kapitel 5

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Lange stehe ich so da und denke darüber nach. Bis Mom nach draußen kommt, bin ich schon vollständig durchnässt.
„Primrose, komm rein. Die Tour der Sieger beginnt!"
Die Tour der Sieger. Ich habe meine Mutter erzählt, dass ich deswegen hier bin. Dass ich es mit ihnen gemeinsam anschauen möchte. Mit steifen Schritten gehe ich auf das Haus zu, unwissend, ob ich mir wirklich mit ihnen die Siegertour ansehen werde.
Ich gehe ins Wohnzimmer und sehe Dad, Roses und Orchidra schon auf dem Sofa sitzen. Mutter setzt sich neben Orchidra, sodass der einzige freie Platz zwischen Orchidra und Roses ist. Ich will schon durch die Tür nach Hause verschwinden, als Roses mich anspricht.
„Setz dich doch!", fordert er mich auf. Seine Stimme klingt hart und nicht die kleinste Spur Freundlichkeit liegt darin, doch scheint er es ernst zu meinen.
Ich schüttele den Kopf und öffne gerade die Tür.
„Doch. Komm. Du hast es versprochen, Baria. Du hast es versprochen.", meint Roses immer noch kalt, aber wärmer als vorher.
„Mir ist nicht gut. Ich glaube, ich gehe lieber nach Hause.", versuche ich eine Ausrede zu finden.
Mutter schaut mich an. „So nass bei dem Regen? Nein, du bleibst! Bei so einem Wetter krank rauszugehen macht das nur noch schlimmer! Du bleibst und schausg dir die Siegertour mit uns an!"
„Aber, Mutter, ich sollte wirklich nach Hause! Ich...", führe ich meine Versuche weiter noch kläglich aus.
„Mum hat recht! Du solltest lieber hier bleiben! Wenn du krank bist, solltest du wirklich nicht raus. Außerdem hast du es uns versprochen!", bekräftigt Roses.
„Eno, es ist alles gut. Setz dich zu uns!", sagt Orchidra eindringlich.
Ich starre sie an. Sie kann doch nicht glauben, dass Roses mir verziehen hat? Man merkt doch sofort, dass er noch wütend ist!
„Enobaria, jetzt setz dich endlich!", ruft Dad genervt. Gerade pünktlich schaltet sich der Fernseher ein.
Katniss steht in warmer Winterkleidung mitten in einem Schneesturm vor ihren Haus. Sie trägt eine weite, schwarze Hose - Der Stoff sieht sehr weich aus - und einen dreifarbigen, dicken Pulli - grün, blau und grau - und einen schönen Schal, an dem ihre goldene Brosche hängt. Es sieht einfach umwerfend aus!
Peeta kommt ein paar Häuser weiter aus seinem Haus. Er trägt beinahe dasselbe, nur das alles eher einen Männerschnitt als einen Damenschnitt hat.
Sofort breitet sich ein breites, fröhliches, verliebtes Lächeln auf Katniss' Gesicht aus, viel echter wirkend, als in ihren Spielen. Langsam läuft sie die Treppe zu ihrem Haus runter, bis ihre Füße den schneebedeckten Boden berühren. Lächelnd macht Peeta es ihr nach. Beide werden schneller und treffen sich bereits rennend in der Mitte. Sie springt in seine Arme, er fängt sie auf und sie drehen sich im Kreis. Plötzlich rutschen sie aus und fallen in den Schnee, der in alle Richtungen fliegt und sie bedeckt. Ich höre das lachen der beiden aus dem Fernseher kommen, in das auch meine Familie mit einsteigt. Doch ich lache nicht. Die beiden sind keineswegs glücklich. All dieses romantische Gespiele, der Kuss, den sie jetzt tauschen, alles ist nichts anderes als eine Überlebensstrategie. So wie jeder Sieger seine eigene Strategie hatte. Ihre Strategie ist untypisch für Sieger, meine typisch. Ich habe alle anderen Tribute von Anfang an eingeschüchtert und mich mit den anderen Karrieros zusammengetan, bis kaum einer übrig war und ich die anderen hinterhältig und kaltblütig ermordet habe. Dazu ist die Strategie von Katniss und Peeta noch sehr freundlich. Sie haben auf verliebt getan, um alle Zuschauer auf sie aufmerksam zu machen, Peeta hat sich den Karrieros angeschlossen, angeblich um Katniss zu beschützen, und Katniss hat sich erst allein geschlagen und sich dann mit dem kleinen Mädchen zusammen zu tun. Anschließend haben Katniss und Peeta sich verbündet und auf romantisch getan, um möglichst viele Sponsoren zu bekommen - und das hat geklappt! Mit einem Trick mit giftigen Beeren haben die beiden - wieder so tuend als wäre das aus Liebe - das Kapitol herausgefordert und durften beide leben. Ich bewundere die beiden deswegen: so schlau, um eine gute Taktik zu finden, ohne viele Menschen töten zu müssen. Schlau von ihnen und vor allem von ihrem Mentor.
Katniss hilft ihm auf, vorsichtig, sie hakt ihren Arm in seinen und mit einem Lächeln zur Kamera gehen sie los. Sie steigen in einem Auto, als ich bemerke, dass meine Mutter mich anstarrt.
„Was?", frage ich verwirrt.
„Keinen Rat hierzu für Orchi?", kontert sie.
„Einen Rat? Was für einen Rat? Wofür?" Die Überraschung steht mir ins Gesicht geschrieben. Genauso wie jetzt auch meiner Mutter.
„Orchidra? Sie wird dieses Jahr Tribut? Was kannst du ihr da raten?", fragt sie.
„Ähm, Mum, nicht jetzt. Lass uns das lieber erst zuende sehen!", versucht Orchidra sich rauszureden.
Ich atme tief durch. Selbst wenn sie sich nicht freiwillig melden, Snow könnte irgendwie dafür sorgen, dass sie in die Spiele kommen. Sie müssen gewappnet sein.
„Nein, ist schon gut. Ich kann es auch schon jetzt machen. Ihr seid Karrieros und so seht ihr auch aus. Also könnt ihr euch nicht als Schwächlinge abstempeln lassen. Auch könnt ihr es nicht so wie Katniss Everdeen und Peeta Mellark machen. Es wäre nur ein Jahr her, sie würden euch sofort entlarven. Ich wäre dafür, dass ihr eucb wie typische Karrieros verhaltet. Lernt möglichst viele Dinge, bevor ihr zum Kapitol geht. Lasst euch von nichts aufhalten. Zeigt den Kapitolsbewohnern eure Stärke. Ihr müsst eure besten Stärken im Einzeltraining zeigen. Zusätzlich empfehle ich euch, diese nicht im Gruppentraining zu zeigen. Worin ihr nur normal gut seid, könnt ihr getrost zeigen und euch darin verbessern. Neues lernt ihr am besten nur unter euch, nicht vor den anderen. Lasst euch nicht auf kämpfe mit den anderen ein, egal was passiert. Es lohnt sich nicht. Im Interview seid freundlich und zuversichtlich und stark. Vielleicht etwas sturr, falls es angebracht ist. Nehmt in der Arena sofort alle Waffen und Vorräte in Beschlag. Lernt auch vorher, wo ihr euch, wenn nötig, neues besorgt. Sucht schon am ersten Tag sofort eine Wasserquelle. Entscheiden, ob ihr zu den anderen Karrieros geht, müsst ihr selber herausfinden. Lernt die anderen Karrieros kennen. Überlebt!", fasse ich schnell zusammen. Mutter nickt bloß ruhig und schaut wieder auf den Bildschirm, auf dem Katniss gerade eine Frau umarmt. Wenn ich mich nicht irre, ist das ihre Mutter, wie ich aus einem Interview zwischen der Frau und ein paar Kameramänner und einer Journalistin weiß. Orchidra sieht mich ernst an, vielleicht mit einer Spur Besorgnis in den Augen. Ich versuche ihr mit einem Kopfschütteln zu signalisieren, dass ich immer noch der Meinung bin, dass sie nicht in die Spiele soll.
Ich weiß nicht, ob sie das versteht.

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