Kapitel 4

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Tim hatte für die Zeit des Turniers seine Außenwelt vollkommen vergessen können. Er kommentierte das Geschehen, spielte und sah den anderen beim Spielen zu und sah nebenbei ab und zu nach, ob alles reibungslos ablief.
Er mochte die Arbeit mit dem Server und dem ganzen Team. Die vielen kreativen und fleißigen Leute, mit denen er Tag für Tag zusammenarbeitete.
Mit einem „Bis dann!" beendete er seine Aufnahme und sicherte die Dateien ab, um das später zusammenzuschneiden. Nach einer Weile schloss er auch Minecraft und nahm die Kopfhörer ab. Er strich sich durch das leicht verschwitzte Haar, das wegen der Kopfhörer am Kopf klebte, und warf einen Blick auf die Uhr. Es war noch nicht besonders spät.
Stegi würde frühestens in zwei-drei Stunden anrufen. Also allerfrühestens. Bei Stegis Schlafrhythmus vielleicht auch eher in sechs...
Seufzend rollte er mit seinem Stuhl ein bisschen vom Schreibtisch weg und stand dann auf, um sich etwas Essbares zu holen. Mit Sandwiches und Eis bewaffnet setzte er sich wieder an den Computer und lenkte sich von Stegi-Gedanken ab. (Obwohl er sich dabei erwischte, nachzuschauen, ob Stegi im TS online war... Bis ihm wieder einfiel, dass das recht unwahrscheinlich war.)
Seine Zeit für soziale Netzwerke war eher begrenzt und immer, wenn er Twitter öffnete, kam ihm eine Flut an Mentions, DMs und anderem Kram entgegen.
Es gab immer so viele Fanarts. Tim, der künstlerisch eher unbegabt war, war immer ziemlich beeindruckt von der Vielzahl an Menschen, die ihn (meist zusammen mit Stegi) zeichneten.
Es war sowieso furchtbar niedlich, wie die Fans auf das ganze Stexpert-Ding eingingen und weitersponnen und für sich real machten. Tim verfolgte das nicht aktiv, sondern mehr so nebenbei, aber es war eine große Community mit unglaublich vielen aktiven und kreativen Menschen.
Dennoch halfen die Fanarts gerade nur bedingt, nicht an Stegi zu denken (obwohl er seinem Fanart-Ich nicht wirklich ähnlich sah). Tim favorisierte ein paar, die ihm irgendwie auffielen und scrollte recht flott durch seine Mentions.
Die Zeit wurde mal wieder ziemlich langsam. Normalerweise war das anders, wenn er seine Zeit im Internet vertrödelte, aber heute wanderte sein Blick immer wieder auf sein Handy, ob Stegi sich gemeldet hatte, und auf die Uhr. Er wollte sich nicht fragen, was Stegi gerade machte und ob er überhaupt heute Nacht hier schlafen würde oder zu Franzi fahren würde, um die Nacht dort zu verbringen.
Es wäre ja logisch. Sie waren ein Paar. Sie würden beschwipst, durchgetanzt und überdreht sein. Und verliebt, wahrscheinlich. Glücklich und laut... in so einer dieser Nächte, in denen alles möglich war.
Tim verharrte mit den Fingern über der Tastatur. Er hatte eine Mail schreiben wollen, aber seine Konzentration war ganz woanders und die vorgefertigten Sätze wollten sich nicht in seinem Kopf formulieren.
Der Abend war anstrengend und ermüdend und Tim sah noch ein paar zähen Stunden entgegen, bis er ein Zeichen von Stegi bekam. Wenn er denn eins bekam.

In der Nacht war die Stadt leer und still. Die Neonleuchten der Werbung, die Straßenlaternen und die Ladenbeleuchtungen verhinderten, dass es wirklich dunkel wurde, aber dennoch hatte die Nacht eine ganz besondere Stimmung.
Die Straßen waren wie leergefegt, als Tim mit flottem Tempo zu dem Club fuhr, vor dem Stegi auf ihn wartete.
Er war erleichtert. Es machte ihn froh, dass Stegi sich von ihm abholen ließ, dass er nicht mit zu Franzi fuhr, dass... dass Stegi wirklich nur mit den Mädels tanzen gegangen war.
Gleichzeitig versuchte er alles, um da nicht zu viel reinzuinterpretieren. Immerhin konnte es sehr gut sein, dass Stegi einfach gar nicht aufgefordert wurde, mit den Mädels zu kommen. Oder er hatte Tim nicht auf ihn warten lassen wollen.
Die Gründe waren im Endeffekt egal, denn so oder so durfte er sich einfach keine Hoffnung machen.
Im Club schien noch gut Betrieb zu sein. Die Raucher standen als eingeschworene Gemeinschaft davor und etwas abseits davon lehnte Stegi gegen einen Laternenmast und hob die Hand, als er Tims Auto sah.
Tim bremste direkt neben ihm (es waren ja keine anderen Autos auf der Straße, die das stören könnte) und ließ ihn einsteigen. Stegi roch nach Rauch, Alkohol und Schweiß. Nach einer wilden Nacht. „Na?", machte Tim und grinste Stegi an. „Wie war's?"
„Anstrengend", sagte Stegi und hing irgendwie seltsam auf dem Beifahrersitz. Anscheinend war er doch ein bisschen mehr angetrunken, als Tim gedacht hätte. „Aber witzig." Er fuhr sich durch seine Haare, die recht wild vom Kopf abstanden. Ob er sie bei Sina noch so gestylt hatte, bevor sie in den Club gegangen waren? „Diese Cocktails sind verdammt lecker", erklärte er. „Ich hatte ein paar zu viel." Er grinste blöd.
Tim warf ihm immer wieder Seitenblicke zu und fuhr jetzt ruhiger. „Und die Mädels? Kommen die gut nach Hause?"
„Klar", sagte Stegi laut. „Fährt ein Bus. Sie sind aber noch drin und tanzen. Gott, was die tanzen, ehrlich. Man könnte meinen, das wäre die letzte Gelegenheit, unrhythmisch auf der Stelle zu hampeln." Stegi starrte Tim an. „Du hättest da sein sollen", erklärte er ihm ernst. „Ich geh nie wieder mit Mädels feiern."
Tim grinste. „Du hast nicht die ganze Zeit knutschend mit Franzi in der Ecke verbracht? Das ist nämlich der Grund, mit Mädels feiern zu gehen."
Stegi schnaubte. „Es geht nicht darum, dass es Mädels waren, sondern darum, dass du nicht da warst. Dein blödes Turnier, ne?" Er grummelte noch ein bisschen vor sich hin und Tim war verzaubert von ihm. Davon, dass Stegi ihn vermisst hatte.
„Obwohl... Es war furchtbar, dass es Mädels waren! Also nur Mädels." Stegi fuchtelte mit den Händen. „Sie haben sich stundenlang fertig gemacht und tausende Outfits durchprobiert und mich bei jedem einzelnen nach meiner Meinung gefragt. Und dann hab ich halt gesagt ‚Hm, sieht gut aus' weil das ja offensichtlichmein Text war und dann haben sie gesagt, ich würde gar nicht hinschauen." Stegi seufzte. „Und als ich dann gesagt hab, dass der eine Rock hässlich ist, waren sie beleidigt."
Tim musste lachen. „Das hast du gesagt?", fragte er amüsiert.
„Irgendwie so was. Ich hatte einfach keine Lust mehr", knurrte Stegi. „Und sie haben sie ganze Zeit Hugo getrunken und rumgekichert. Und dann sind wir zum Club und sie waren halt schon gut angeduselt und Franzi ist ungelogen noch anhänglicher geworden und wollte entweder knutschen oder tanzen. Ach Mann." Er starrte missmutig vor sich hin. „Es ist lächerlich." Der Satz kam leise und verletzlich aus seinem Mund.
Tim sah auf die Straße hinaus und bremste an einer roten Ampel. Er sah zu Stegi hinüber, der auf seiner Unterlippe rumkaute und in Gedanken weit weg zu sein schien. „Hey", sagte er leise. „Das ist okay. Da wäre niemand froh gewesen, an deiner Stelle. Und du hattest doch auch Spaß, oder?"
„Ne", murrte Stegi. „Ich hab alle Nase lang daran gedacht, wie viel besser es wäre, wenn du da wärst." Er sah Tim fest an und wirkte gar nicht mehr abwesend, sondern ziemlich klar. „Und ich hab über das nachgedacht, was du gesagt hast. Dass man hin und weg sein sollte. Und hab zu viel getrunken."
Tim schluckte und sah zur Ampel hoch, die von ihm unbemerkt auf Grün geschaltet hatte. Er legte den Gang ein und beschleunigte. „Und das bist du nicht?"
Stegi strich sich durch sein wildes Haar. Eben hatte er einen Moment laut und genervt gewirkt, jetzt schien er vor allem traurig und nachdenklich. „Vielleicht... vielleicht liegt es einfach an mir. Vielleicht kann ich nicht hin und weg sein. Vielleicht wird es immer so bleiben, dass ich Mädchen schön und heiß finde, aber niemals dass mich eins so begeistert, dass ich mich so verliebe. Vielleicht bin ich bekloppt, dass Franzi jetzt schon beginnt, mich zu nerven. Sie ist schön. Sie ist lieb. Sie ist witzig. Sie mag mich wirklich. Und ich mag sie auch. Aber nicht genug."
Stegi starrte wieder mit abwesendem Blick durch die Windschutzscheibe und schien Tims Anwesenheit vergessen zu haben. Tim sah immer wieder kurz zu ihm, während er weitersprach. „Ich kann doch nicht mein Leben lang auf etwas warten, was nicht passieren wird. Und ich kann doch nicht einfach mit irgendeinem Mädchen rumvögeln und ihr Herz brechen."
„Dann ist es so", sagte Tim und hielt sich ein wenig am Lenkrad fest. „Dann suchst du nicht nach jemanden, bei dem du hin und weg bist, sondern ein Mädchen, das sich nach Heimat anfühlt und dein bester Freund ist. Mit dem du lachen und weinen kannst."
„Wie soll ich so jemanden finden?" Stegi setzte sich aufrechter hin. „Du bist mein bester Freund. Mit dir zusammen zu sein, ist einfach und schön und Heimat, so sehr. Sowas gibt es nicht zweimal. Ach." Er machte eine komische Kopfbewegung. „Es ist bescheuert. Es ist lächerlich. Ich... ich sollte... Die Klappe halten."
„Nein", widersprach Tim. „Red mit mir. Ich mein... Ich denk auch oft..." Er zögerte und sprach nur weiter, weil er Stegis fragenden Blick auf sich spürte. „Ich denk oft, es wäre leicht, mit dir zusammen zu sein." Es wäre leicht, es wäre perfekt, es würde mich glücklich machen, ich wäre mehr als hin und weg. Aber ich bin nicht derjenige, den du lieben könntest. Weil ich zwar Heimat, aber nicht hübsch und heiß für dich bin und das auch dazu gehört.
Stegi lächelte traurig. „Wir sind solche Lappen."
„Ja", stimmte Tim sofort zu. Seine Wohnung tauchte vor ihnen auf und er parkte das Auto ein. Sie blieben noch einen Moment sitzen, als würden sie das Gespräch noch einen Moment festhalten – noch nach Fäden suchen, die nicht zuende gestrickt waren, nach losen Aussagen, die vernäht werden mussten.
Aber es war alles gesagt.
Außer vielleicht... „Ich bin immer für dich da", erklärte er leise und zog den Autoschlüssel ab. Dann sah er Stegi ernst an.
Stegis Augen waren dunkel und traurig. „Ich weiß."

Als Tim mit offenen Augen in seinem Bett lag und das Gespräch sich in seinem Kopf drehte und seltsame Kreise zog, ging seine Schlafzimmertür auf und Stegi kam herein.
Tim setzte sich auf und sah Stegi viel zu deutlich wegen dem Licht, das von der Straße durch das Fenster hineinschien. Er wirkte verstrubbelt und kuschlig und Tim wollte ihn in den Arm nehmen. Viel zu sehr.
„Was ist?", fragte er leise und seine Stimme war tief und verschlafen, obwohl er gar nicht geschlafen hatte. Oder doch? War er wach gewesen, als die Gedanken immer wirrer wurden oder war es schon die Stufe zum Schlaf gewesen? Er schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um wacher zu werden.
„Ich kann nicht schlafen." Stegi stand immer noch neben Tims Bett und in Tim rasten die Gedanken, ob er Stegi in sein Bett einladen sollte oder ob das die schlechteste Idee des Jahrtausends war.
Stegi atmete hörbar. „Ich hab Franzi eine SMS geschrieben. Dass es mir leidtut und ich ihr das Beste wünsche, aber Schluss mache."
Er ließ Tim gar nicht zu Wort kommen, sondern redete weiter. „Und weißt du, dass mir der dumme Gedanke gekommen ist, dass ich erstens diesen blöden Move bringe, per SMS Schluss zu machen, und zum anderen, dass ich dir geschrieben hätte ‚Wir müssen reden und nicht über den Nether' und sie das aber nicht verstehen würde und ob man es wirklich ‚Schluss machen' nennen kann, wenn man nur ein paar Wochen ab und zu mal zusammen ausgeht."
„Oh Gott, komm her und leg dich hin", seufzte Tim.
„Warum?", fragte Stegi, ging aber brav zu Tims Bett und setzte sich auf die Bettkante.
„Weil du dann an etwas anderes denkst, als an ein Mädchen, das dich nicht wirklich interessiert." Er hob die Decke und Stegi schlüpfte darunter.
„Das ist seltsam", murmelte Stegi. „Und ich glaub, ich bin immer noch angeduselt."
„Ich bin müde", stellte Tim fest. „Komm kuscheln und schlafen." Er rutschte zu Stegi, umarmte ihn und schmiegte sich an ihn. Tim war glücklich, obwohl es der dämlichste Moment war, um glücklich zu sein. Stegi war duschen und roch inzwischen nicht mehr nach dem Club, sondern nach Duschgel und ihm selbst. Es war warm.
„Ich dachte, ich bin traurig und komisch", flüsterte Stegi und legte einen Arm um Tim.
„Bist du auch", gab Tim zurück. „Ich liebe dich trotzdem."
Im Raum breitete sich eine Stille aus. Groß und schwer. Tim hatte aber keine Lust darauf. Er hielt Stegi im Arm und der wehrte sich kein bisschen dagegen. Es war doch egal, ob Stegi ihn zurückliebte. Es war egal, dass er es nun wusste und ob er die Worte ernst nahm oder nicht. Vielleicht hatte Stegi auch so sehr über die Stränge geschlagen, dass er sich morgen nicht mehr daran erinnerte, was Tim gesagt hatte.
Vielleicht würden sie auch einfach so tun, als hätte niemand etwas gesagt.
Vielleicht war das alles nur ein Traum und die Wärme und der Duft ein Teil davon.
„Weißt du, Stegi", murmelte Tim. „Franzi ist in meinem Kopf Bambi. Sie ist schön und rehartig. Hat braune Augen und glatte, dunkle Haare, ist zierlich und süß wie diese Chrissy Costanza. Sie ist wirklich genau das Mädchen, das du als heiß betitelst. Aber sie ist nur das für dich. Du interessierst dich nicht dafür, welches ihre Lieblingsblumen sind oder wie ihr Verhältnis zu ihren Großeltern ist. Wäre es nicht unfair, mit ihr zusammen zu sein? Ihr vorzugaukeln, dass du ein Leben mit ihr verbringen willst? Selbst wenn es ihr das Herz brechen wird, diese SMS und alles... Noch schlimmer wäre es, es ohne Hoffnung weiterlaufen zu lassen."
Es blieb still und Stegis Atem an Tims Wange war regelmäßig und tief. „Ich rede zu viel, wenn ich müde bin", murmelte Tim. „Und zu kitschig. Mit zu viel Information und zu viel Gefühl."
Er schloss die Augen und zog noch einmal Stegis Duft ein. „Gute Nacht. Verlieb dich so, dass du hin und weg bist, ja?"
In seiner Brust schlug sein Herz wehmütig und schwer. „Ich wünsch dir das so sehr", flüsterte er in die Dunkelheit.  


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