Gegen Abenddämmerung weckt mich eine Hand, die sanft an mir rüttelt. "Lis", flüstert jemand. "Hey, aufwachen. Ich bin da", sagt die Stimme und ich schlage die Augen auf. Vor mir hockt James und sieht mich lächelnd an. "Hast du was ergattert?"
"Nicht wirklich was Gutes, aber das Stück Brot hier ist dem Bäcker wohl abhanden gekommen", er zeigt auf ein sauberes Baguette und ich muss ebenfalls grinsen. "Du?" Ich zeige wortlos auf die Birnen. "Okay, komm. Abendessen!" Grinsend reibt sich James die Hände und schnappt sich die Lebensmittel. Ich setze mich auf und reibe mir ein paar Mal über die Augen. Gähnend frage ich: "Wurdest du je von den Edelleuten angesprochen?" Spöttisch hebt James eine Augenbraue hoch. "Ich? Sieh mich an, ich bin, wie sagen sie noch gleich? Abschaum?! Als würde sich je einer von denen dazu herablassen mit uns zu sprechen, ganz davon zu schweigen uns Aufmerksamkeit zu schenken!"
"Mir hat heute wer Aufmerksamkeit geschenkt und mich angesprochen...." James lässt überrascht sein Brot fallen und starrt mich an. "Was?!"
"Er heißt Sean und sollte ungefähr in unserem Alter sein. Ich hab ihn am Brunnen getroffen, wo er mich dann angesprochen hat." James sieht mich immer noch mit offenem Mund an. "Das ist echt der helle Wahnsinn!" Ich zucke mit den Schultern und beiße in mein Brot. "Ja", sage ich und beiße erneut rein. Gott, schmeckt das gut! "Lass uns das für morgen früh aufheben, okay?" Er zeigt auf das restliche Stück Brot und eine Birne. Ich nicke und esse noch auf, bevor ich mich wieder hinlege und die Augen schließe.
Am nächsten Morgen trennen James und ich uns wie gewohnt und ziehen auf der Suche nach Essen durch die Straßen dieser Stadt. Jeden Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Ich habe es so satt so zu leben, aber was kann ich schon ändern? Mit meinen Gedanken und dieser unendlichen Hilflosigkeit in mir drin werde ich immer wütender und stapfe nur so drauf los. Ich achte nicht mehr auf meine Umgebung und setze einfach einen Fuß vor den anderen. "Guten Tag, Liska!" Seans Stimme reißt mich schließlich aus meinen Gedanken und katapultiert mich in die bittere Realität. "Sean", sage ich knapp. "Schön dich wieder zu sehen", sagt Sean lächelnd und seine braunen Augen funkeln dabei. "Wieso?" Überrascht sieht er mich an. "Wie bitte?"
"Wieso es schön ist mich wieder zu sehen. Ich mein ich bin doch 'Abschaum' für euch", sage ich wütend. "Für alle hier, ja, aber nicht für mich! Ehrlich ich finde dich bisher echt freundlich", sagt er und lächelt wieder. "Okay, danke. Du scheinst auch echt nett zu sein, aber ich denke, dass sich das dennoch ändern wird."
"So wenig Vertrauen in mich, Liska?" Scherzend streckt er mir die Zunge raus. Dann, aus dem Nichts, höre ich Stimmen und Schritte. In der Ferne kann ich Jäger erkennen und sie erkennen mich anscheinend auch, denn sie kommen auf mich zu gerannt. "Vertrauen will verdient sein", flüster ich Sean noch ins Ohr, dann renne ich los. Ich spüre noch lange seinen Blick im Rücken, dann biege ich ab und er kann mich nicht mehr mit seinen Augen verfolgen. Die Jäger aber bin ich deshalb noch nicht los. Der Wettlauf mit den Jägern, der Zeit, dem Hunger, dem Durst und zu guter Letzt dem Tod kann wieder beginnen! Ich laufe weiter und schwinge mich an einem herabhängendem Seil hoch. Geschickt ziehe ich mich an dem Seil hoch. Dieses endet an einer Feuerleiter wo ich weiter kletter. Oben auf dem schrägen Dach des Hauses bleibe ich schließlich stehen und atme die frische Luft ein. Vor mir erstreckt sich die ganze Stadt und ich kann beinahe alles sehen. Die Menschen wie sie arbeiten und herum laufen. Gespräche, Gelächter und Hufgetrappel dringen an meine Ohren und der Geruch von all der angebotenen Waren, von Pferdedung und Parfüm dringen an meine Nase. Ich atme tief ein und schließe genießerisch die Augen. Dieser Geruch, diese Aussicht und diese Stadt kenne ich seit ich denken kann. Sie ist meine Heimat und obwohl es mir nicht passt, irgendwie habe ich sie ja auch gern. Aber vielleicht kommt das auch daher, dass ich nie woanders war. Ich wünschte ich käm hier irgendwann mal raus.... Wie lange das wohl dauer würde? Bis die Menschen vergessen könnten, dass ich mal ein Straßenkind war. Würden sie es je vergessen? Würde ich es denn je vergessen? Seufzend gehe ich weiter, da mich einiger Rufe der Jäger mal wieder aus meinen trostlosen Gedanken holen. So schnell ich kann gehe ich über das Dach, aber die Dachziegel sind nass und vermodert, sodass ich immer wieder ausrutsche und hinfalle. Nach fast jedem Schritt muss ich mich wieder aufrappeln und weiterkämpfen. Wie in meinem echten Leben. Ich falle, rappel mich auf und kämpfe...dann falle ich wieder. Ein endloser Teufelskreis, in dem ich mich seit ich denken kann befinde. Ich kenne nichts anderes außer die Straße, kann mich an nichts anderes erinnern. Nicht an Familie, Geburtsort, damalige Freunde und Bekannte....an nichts. Die einzigen Erinnerungen die sich in meinem Kopf befinden und immer wieder widerholen zeigen mein Leben auf der Straße. Voller Hunger, Durst, Verlusten, Schmerz und schierer Hilflosigkeit. Wie ich auf der verregneten Straße sitze, weine und einfach nur sterben will und wie James mich dann mal wieder findet. Wie er mich aufmuntert, aufbaut und ein weiteres Mal mitnimmt. Wie bei unserem allerersten Treffen, als ich floh. Aber fliehe ich nicht schon mein ganzes Leben lang? Jedenfalls tue ich das gerade einmal wieder. Die Jäger oder der Tod, eigentlich ist es doch das Gleiche. "Da ist sie!" Jäger tauchen am Dach auf und zeigen auf mich. Ich stolper weiter über die nassen Ziegel. Das aufgeweichte Moos unter meinen Füßen rutscht auf einmal weg und schon schlitter ich nach unten. Einige Meter tiefer fange ich mich ab und ziehe mich hoch. Währenddessen kommen die Jäger vorsichtig über das Dach auf mich zu. Auch sie haben Schwierigkeiten, aber sie sind kräftiger und erholter als ich, also holen sie immer mehr auf. Ich muss mich beeilen! Mit erhöhter Geschwindigkeit setze ich meinen Weg fort. Immer weiter, falle hin und stehe wieder auf. Endlich komme ich am Ende des Hauses an und blicke auf die Straße tief unter mir. Menschen, so klein wie Ameisen, tummeln sich auf ihr. Sie kaufen ein, lachen, reden und wissen nicht das gerade in diesem Moment eine Straßenkind hier oben auf der Flucht vor den Jägern ist. Einfach nur weil es so ist wie es ist. Ich hatte heute nichts gestohlen, aber ich bin und bleibe Abschaum für sie. Aber sie haben mich doch überhaupt erst erschaffen. Ohne sie wäre ich kein Straßenkind das um zu überleben, klauen muss. Ohne sie gäbe es uns alle nicht. Ohne sie. Ein zischendes Geräusch an meinem Ohr lässt mich zusammen fahren. Eine Kugel verfehlt mich nur um Haaresbreite. Ich blicke zu den Jägern zurück, die mir schon näher sind als mir lieb ist. Sie sind nur noch ein paar Meter von mir entfernt und scheinen sich dessen immer mehr bewusst zu werden, denn sie beeilen sich immer mehr. Noch nie waren sie mir so nah gewesen! Ich kann sie das erste Mal in meinem Leben mit allen Details sehen. Kann das starke Parfüm riechen, das sie tragen. Kann die einzelnen Pigmente in ihren Augen sehen. Ich drehe mich wieder um und suche hektisch nach einem Fluchtweg. Doch ich kann nichts entdecken. Kein Kabel oder Seil. Keine Leiter oder ein Fenster. Nichts. Panik steigt in mir hoch und will mich übermannen. Wie ein wildes Tier versucht sie die Kontrolle zu übernehmen. Schluckend dränge ich sie in den hintersten Teil meines Kopfes und konzentriere mich weitestgehend. Der einzige Weg wäre wohl.... Ich atme einmal tief ein und aus, aber es entspannt mich viel weniger als gedacht. Also lasse ich mich einfach fallen. In Schräglage rutsche ich das glitschige Dach nach unten. An der Regenrinne versuche ich noch meinen Sturz zu bremsen, aber ich bekomme es nicht mehr zu fassen und so knalle ich ohne Stopp auf dem Asphalt auf.
Also ich weiß zwar nicht wie sich das anfühlt, aber ich denke mal extrem schmerzhaft :-/. Zum Glück ist das Haus nicht so hoch, aber dennoch ging es unserer Liska schon mal besser....