56. Kapitel - Tobias

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In den folgenden Tagen hilft mir Bewegung,
nicht Stillstand, die Gedanken an Tris zu verdrängen, also gehe ich durch die Flure, statt zu schlafen. Ich beobachte alle anderen, wie sie sich von dem Gedächtnisserum erholen, das sie dauerhaft verändert hat.


Jene, die im Nebel des Gedächtnisserums verloren sind, werden zu Gruppen zusammengeschlossen, und man sagt ihnen die Wahrheit: dass die menschliche Natur vielschichtig ist, dass all unsere Gene verschieden sind, aber weder beschädigt noch rein, weder defekt noch perfekt. Man erzählt ihnen außerdem die Lüge: dass ihre Erinnerungen gelöscht worden seien aufgrund eines schrecklichen Unfalls und dass sie kurz davor gewesen wären, den Behörden die Gleichheit für GDs abzutrotzen.


Meine Hände zittern, als ich in den Kontrollraum gehe, um die Stadt auf den Bildschirmen zu beobachten. Johanna arrangiert den Transport für jene, die die Stadt verlassen wollen. Sie werden hierherkommen, um die Wahrheit zu erfahren. Ich weiß nicht, was mit jenen geschehen wird, die in Chicago bleiben, und ich bin mir nicht sicher, ob es mich interessiert.


Ich schiebe die Hände in die Taschen und schaue einige Minuten lang auf die Monitore, dann gehe ich wieder und versuche meine Schritte meinem Herzschlag anzupassen, und wenn möglich nicht auf die Rillen zwischen den Fliesen zu treten.


Als ich am Eingang vorbeikomme, sehe ich eine kleine Gruppe von Menschen neben der Steinskulptur versammelt, eine von ihnen im Rollstuhl - Nita.


Ich gehe an der nutzlos gewordenen Sicherheitsbarriere vorbei und beobachte sie alle aus einiger Entfernung. Reggie tritt auf den Steinblock und öffnet ein Ventil im unteren Teil des Wassertanks. Die Tropfen verwandeln sich in eine Flut, die aus dem Tank spritzt und sich über den Stein ergießt und Reggies Hosensaum durchnässt.


„Tobias?"


Ich kenne diese Stimme. Caleb. Ich schaue ihn an, will wissen, ob ich etwas von ihrem Gesicht wiederfinden kann, ich will sie immer noch, selbst jetzt, da ich weiß, dass sie vermutlich nie mehr aufwachen wird.


Sein Haar ist ungewaschen und ungekämmt, seine grünen Augen blutunterlaufen, seine Mundwinkel zucken.


Er sieht nicht aus wie sie.


„Ich will dich nicht belästigen", beginnt er. „Aber ich habe dir etwas zu sagen.


„Was willst du mir noch sagen? Wie konntest du sie bloß gehen lassen, du Feigling?!"


„Ich bin kein Feigling!"


„Wie würdest du sonst jemanden bezeichnen, der seine eigene Schwester für sich sterben lässt?"


„Da kennst du aber nicht die ganze Geschichte."


„Was?" Ich brodle vor Wut. Will er mir irgendwelche Ausreden erzählen, warum er sie gehen ließ?!


„Du weißt, dass sie angeschossen wurde, oder? Und dass ich sofort zu ihr ging, nachdem sich das Todesserum verflüchtigt hatte? Sie lag am Boden, halb tot vom starken Blutverlust.


Ich habe sie sofort mit Hilfe der Wachen in den Krankenabteil gebracht. Aber dort lagen alle am Boden, geschwächt von Gedächtnisserum. Sie lag im Sterben, und kein Arzt war in der Nähe. Und dann habe ich etwas getan, das sich weder du noch jemand anderer getraut hätte. Ich habe die Kugel herausgeholt, die ihr Herz um zwei Zentimeter verfehlt hat, herausgeholt, und die Wunde zugenäht. Dann habe ich sie noch an die Geräte angeschlossen. Du kein Recht, mich als Feigling zu bezeichnen, denn das bin ich nicht!


„Du hast sie gerettet? Ausgerechnet du? Wo hast du das gelernt? Das können doch nur Amite!"


„Als wir uns bei den Amite versteckt haben, habe ich dort ein paar Bücher darüber gelesen."

Die Bestimmung - Letzte Entscheidung Alternatives EndeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt