57. Kapitel -Tobias

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Heute werden Tris' Maschinen abgestellt.


Ich leihe ich mir kurzerhand einen Truck aus. Alle haben nach ihrem Gedächtnisverlust genug mit sich selbst zu tun, daher versucht niemand, mich aufzuhalten. Ich fahre über die Skyline, ohne sie wirklich zu sehen.


Als ich die Felder erreiche, die die Stadt von der Außenwelt trennt, drücke ich aufs Gaspedal. Der Truck zerquetscht sterbendes Gras und Schnee unter seinen Reifen, aber es dauert nicht lange, da rumpelt das Fahrzeug bereits über die gepflasterten Straßen des Altruan-Viertels, ohne dass ich sagen könnte, wie viel Zeit vergangen ist.


Die Straßen sind alle gleich, aber meine Hände und Füße wissen, wo sie hinmüssen, ohne dass ich darüber nachdenken müsste. Ich halte vor einem Haus mit rissigem Pflasterweg davor.


Mein Haus.


Ich gehe durch die Vordertür und die Treppe hinauf, immer noch mit diesem dumpfen Gefühl, als würde ich weit entfernt von der Welt durchs Nichts schweben. Menschen sprechen über den Schmerz der Trauer, aber ich weiß nicht, was sie meinen. Für mich ist Trauer eine vernichtende Taubheit, die jedes Gefühl abtötet.


Ich presse die Handfläche auf die Abdeckung des Spiegels, um sie beiseitezuschieben. Obwohl das Licht der untergehenden Sonne über den Boden kriecht und mein Gesicht in sanftem Orange anstrahlt, habe ich nie bleicher ausgesehen, und die Ringe unter meinen Augen waren nie ausgeprägter. Ich habe die letzten paar Tage zwischen Schlafen und Wachen verbracht, weil ich weder das eine noch das andere richtig konnte.


Ich stecke den Rasierer in die Steckdose neben dem Spiegel. Das passende Rasierblatt ist bereits eingelegt, also brauche ich nur durch mein Haar zu fahren und die Ohren herunterzudrücken, um sie vor der Klinge zu schützten. Ich drehe den Kopf und suche meinen Nacken nach Stellen ab, die mir vielleicht entgangen sind. Das abgeschnittene Haar juckt auf der nackten Haut und fällt auf meine Schultern und Füße. Ich streichle mit der Hand über den Kopf, um herauszufinden, ob das Haar gleichmäßig geschnitten ist. Eigentlich brauche ich nicht hinzusehen, ich habe gelernt, mir die Haare zu schneiden, als ich noch jung war.


Ich verbringe eine Menge Zeit damit, es von Schultern und Füßen zu wischen und es dann auf eine Kehrschaufel zu fegen. Danach stehe ich wieder vor dem Spiegel; jetzt kann man den Umriss eines meiner Tattoos sehen. Die Flamme der Ferox.


Ich nehme die Ampulle mit Gedächtnisserum aus meiner Tasche. Mir ist bewusst, dass der Inhalt dieses Röhrchens den größten Teil meines Lebens auslöschen wird, aber das betrifft nur meine Erinnerungen, nicht meinen Fähigkeiten. Ich werde immer noch schreiben können, sprechen, wissen, wie man einen Computer zusammensetzt, weil diese Daten in anderen Teilen meines Gehirns abgespeichert sind. Darüber hinaus werde ich mich an nichts mehr erinnern.


Das Experiment ist vorbei. Johanna hat erfolgreich mit der Regierung verhandelt - mit Davids Vorgesetzten -, damit die ehemaligen Fraktionsmitglieder in der Stadt bleiben können, vorausgesetzt, sie versorgen sich eigenständig, erkennen die Autorität der Regierung an und erlauben Neuankömmlingen, sich ihnen anzuschließen, sodass Chicago ab sofort nur eine weitere Großstadt sein wird wie Milwaukee. Das Amt, einst zuständig für das Experiment, wird innerhalb der Grenzen von Chicago für Ordnung sorgen.


Es wird die einzige Metropole im Land sein, die von Menschen verwaltet wird, die nicht an Gendefekte glauben und danach handeln. Eine Art Paradies. Matthew hat mir gesagt, er hoffe, die Menschen aus der Zone würden nach und nach die Stadt bevölkern, um die leeren Plätze zu füllen und sich dort ein Leben aufzubauen, das glücklicher ist als das, was sie hinter sich gelassen haben.


Ich dagegen will ein neuer Mensch werden. Genauer gesagt, Tobias Johnson, Sohn von Evelyn Johnson. Tobias Johnson mag vielleicht ein stumpfes und leeres Leben haben, aber er ist zumindest heil und nicht ein menschliches Wrack, zu kaputt vom Schmerz, um nützlich zu sein.

Die Bestimmung - Letzte Entscheidung Alternatives EndeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt