Kapitel 2

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Seit ich hier mit meiner Familie in Salisbury wohne, bin ich eigentlich noch nie so richtig aus dem Haus gewesen, um die nähere Umgebung in Augenschein zu nehmen und neue Bekanntschaften zu schliessen. Ich blieb viel lieber zuhause und hatte mich schon regelrecht verkrochen, weil ich mich immer noch so sehr nach meinem alten, und vertrauten Heimatort sehnte. Und somit kenne ich hier eigentlich niemanden, ausser dem sehr verschlossenen Nachbarmädchen Hilary. Aber auch das war nur eine sehr kurze und beinahe nichtssagende Begegnung.

 Hilary ist in meinen Augen wirklich hübsch, doch sie selber scheint nicht wirklich viel Selbstbewusstsein zu haben und macht einen eher scheuen und zurückhaltenden Eindruck. Einmal, als wir uns wieder einmal flüchtig am Gartenzaun ihres Zuhauses begrüssten, während sie die Blumen goss und ich vorbeischlenderte, fragte ich sie, ob sie auch in die Schule im Dorf ginge. Sie nickte mir nur zu und verschwand sofort darauf wieder wortlos ins Haus. Ich war verunsichert und fragte mich, ob sie mich vielleicht einfach nur nicht mochte und mich deshalb nicht kennenlernen wollte; doch Hilary interessierte mich immer mehr und wieso sie mir gegenüber fast keinen Ton von sich gab. Also beschloss ich an diesem Morgen, sie bei der nächsten Gelegenheit wieder anzusprechen und sie in ein Gespräch zu verwickeln. Ich wollte einfach mehr über dieses Mädchen erfahren.

Ich weiss, dass sie so ziemlich jeden Morgen in ihrem Garten die Blumen giesst und ging nach draussen, um nach ihr Ausschau zu halten.

"Hey! Hilary!", rief ich ihr zu, als ich sie erblickte. Sie zuckte zusammen. "Oh. Hallo Cora! Alles Gute zu deinem Geburtstag." Da war ich nun erstaunt. Woher wusste Hilary, dass ich Geburtstag hatte? Sie bemerkte meinen irritierten Blick und sagte noch: "Deine Mum hat Luftballons an euer Gartentor gehängt; also dachte ich mir, dass du Geburtstag hast. Aber entschuldige, ich möchte nicht aufdringlich sein!" Sie drehte sich um und wollte wohl wieder ins Haus verschwinden, aber ich wollte diese Gelegenheit auf keinen Fal ungenützt vorübergehen lassen. Ich lachte sie an und sagte: "Hey, das ist ja cool!! Ich habe noch gar nicht bemerkt, dass meine Mum schon wieder diese ‚Kinderballons' aufgehängt hat! Ich dachte ja eigentlich, dass ich jetzt aus dem Alter schon draussen bin!". Ich hoffte einfach, dass sie auf eine Unterhaltung eingehen würde, doch sie nickte nur und wollte schon wieder ohne ein weiteres Wort verschwinden.

"Warte mal kurz, bitte!", rief ich ihr der augenscheinlich überraschten Hilary hinterher. "Hast du nicht vielleicht einmal Lust etwas zu unternehmen? Ich kenne hier in Salisbury bislang ja nur dich und ich denke mir, dass wir uns vielleicht besser kennenlernen könnten." Hilary war offensichtlich sehr verwirrt und fragte mich vollkommen verwundert: "DU willst etwas mit MIR unternehmen?"

Als sie mich so ungläubig anstarrte musste ich laut loslachen. Was war nur mit ihr los, warum war sie nur so unsicher?

 Ich erwiderte kichernd: "Natürlich, warum denn nicht? Du machst auf mich einen sehr netten Eindruck. Aber etwas mehr miteinander zu sprechen und sich ein wenig näher kennenzulernen wäre in diesem Fall sicherlich sehr vorteilhaft!", zwinkerte ich ihr zu.

Das war das erste Mal, dass ich das blonde, sehr in sich gekehrte Mädchen richtig lächeln sah. Ihre Augen strahlten und sie sah gleich noch viel hübscher aus. Doch im nächsten Moment war dieses Strahlen schon fast wieder verschwunden. "Hm, ok. treffen wir uns morgen, bevor die Schule anfängt und gehen wir dann gemeinsam hin?", fragte sie mich und ihre Stimme klang so, als ob sie regelrecht Angst hätte, dass ich ihr den Kopf nach dieser Frage abreissen könnte.

Mit einem Lächeln nickte ich zustimmend und ging nach einem kurzen Abschiedsgruss wieder hinauf in mein Zimmer. Es war ein ausgesprochen gutes Gefühl für mich, sie ein bisschen aus ihrem Versteck herausgelockt zu haben und vielleicht könnte Hilary ja eine neue Freundin für mich werden.

Nach kurzer Überlegung zog ich mir meine Jacke an und beschloss kurzerhand spazieren zu gehen. Es war zwar schon Abend, die Sonne war schon untergegangen, doch ich wollte unbedingt das erste Mal das Haus und das Grundstück verlassen und die Umgebung allein und in aller Ruhe erkunden. Dieses Bedürfnis war auf einmal einfach so da und ich war bereit für dieses Abenteuer.

Ich verließ das Haus ohne ein Wort und hörte hinter mir die schwere Tür in ihr Schloss fallen. Mum ist es höchstwahrscheinlich ganz recht wenn ich auch endlich mal an die frische Luft gehe.

Die Dämmerung und aufkommende Dunkelheit schreckten mich überhaupt nicht, denn auch in meinem Zimmer mochte ich am Abend kein Licht machen und genoss es, der Dunkelheit nahe zu sein. Diese „dunklen Stunden" übten eine ungeheure Anziehungskraft auf mich aus.

Cor Corvus - Das Herz der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt