14. Februar 2015, Samstag
Pinar
Dieses Mal öffne ich meine Augen tatsächlich. Dieses Mal zeigt sich mir nicht Ada. In der Luft liegt der typische Geruch von Desinfektionsmittel, sodass ich wohl im Krankenhaus sein muss. Meine Kopfschmerzen sind zwar noch spürbar, aber nicht mehr so stark, meine Übelkeit hingegen ist verschwunden. "Bist du wach?", erschreckt mich plötzlich jemand. Ich identifiziere die Stimme meines Vaters, der jetzt ans Bett herantritt. Hinter ihm lugt meine jüngere Schwester hervor. Meine Mutter steht am Fenster und ist mit dem Rücken zu uns gerichtet. "Ganz offensichtlich bin ich das, ja", gebe ich ironisch von mir und versuche zu lachen, was mein Vater jedoch nicht lustig findet. Ich habe für einen kurzen Moment das Gefühl, dass er sauer ist, doch dann beugt er sich zu mir herunter, küsst mich auf die Stirn und fragt mich, was passiert ist. Diese eine Frage führt mich direkt zurück zur letzten Nacht.
"Baba, ich hab sie gesucht und dann rief sie mich an." Er unterbricht mich nicht, fragt mich aber mit seiner Mimik, wen ich meine. "Ada. Ich habe sie Schreien gehört. Ich hörte einen Schuss." Ich erkenne in seinem Gesicht eine Mischung aus Wut und Besorgnis, im Gesicht von Eylül, meiner Schwester, hingegen sehe ich pure Verzweiflung. Meine Mutter steht immer noch, mit dem Rücken zu uns gerichtet, am Fenster. Ich erzähle ihnen von dem Mann, den ich sah und erkenne wie die Lippen meines Vaters beben, als ich erzähle, dass ich auf dem Toilettenboden aufgewacht bin. Bis zum Ausbruch des Feuers und dem Zeitpunkt meiner Ohnmacht greife ich das Geschehene auf und dann fällt mir der Traum mit dem Rosenstrauß ein und wie sie da auf mich gewirkt hat. "Ich sah sie, während ich schlief. Sie saß dort zwischen zwei Schwänen. Baba, meinst du sie könnte..." "Und wieder sind wir hier", unterbricht meine Mutter mich und wendet sich uns das erste Mal zu. Auch sie tritt nun ans Bett heran und kommt mir nahe. "Wieso bringt ihr mich nur immer wieder an diesen Ort?" Sie sieht mir direkt in die Augen. Mein Vater ruft ihr in einem harten Ton zu, dass sie sich zügeln soll, doch für sie existiert in diesem Moment niemand außer ihr und mir. Unsicher versuche ich ihrem Blick auszuweichen. "Anne, ich verstehe nicht ganz, was...", doch wieder unterbricht sie mich. Dieses Mal nicht mit Worten, sondern dadurch, dass sie auf der Stelle, ohne Vorwarnung, den Blickkontakt abbricht und zur Tür geht. Mit den Fingern die Türklinke umschließend, bleibt sie noch einmal stehen und spricht folgende Worte: "Ob ihr wirklich etwas passiert sein könnte? Glaub mir, an diesem Ort sterben ständig Menschen, das weiß ich genau. Nur, weil du es dir wünscht, wird das Schicksal dich nicht mit Samthandschuhen anfassen." "Alev!", erhebt mein Vater seine Stimme, doch sie ignoriert ihn. Ihr letzter Blick gilt nicht einmal mehr mir, sondern Eylül, anschließend verlässt sie das Zimmer.
Zu dritt sind wir jetzt im Zimmer und keiner von uns weiß, was jetzt gesagt werden muss. Ich versuche aufzustehen, benötige jedoch noch ein wenig Hilfe von Eylül beim Aufrichten und laufe dann zum Fenster, wo bis eben noch meine Mutter stand. Ich sehe meinem Vater an, dass er gerne etwas sagen würde, doch ihm fehlen Worte, um sich auszudrücken, sodass er gar nichts sagt. Ich blicke aus dem Fenster und sehe das Maybachufer. Es ist zwar bereits nachts, doch durch die Straßenbeleuchtung erkenne ich noch einiges am Ufer. Schwäne laufen dort durch das Gras direkt ins Wasser hinein und diese Ironie, dass meine Mutter gerade Schwäne beobachtete, während ich von ihnen erzählte, erscheint mir schon fast poetisch. Mit verschränkten Armen stehe ich dort, bis ich die rauschende Stimme meines Vaters wahrnehme: "Es tut mir Leid." Die Tür öffnet sich, schließt sich wieder und obwohl ich weiß, dass Eylül noch im Raum ist, ist es vollkommen still. Es fühlt sich an, als ob mit dem Schließen der Tür ein Schalter in mir umgeschaltet worden wäre, der meine Tränendrüsen aktiviert hat, denn ich spüre, wie warme Flüssigkeit über meine Wangen entlangläuft und beobachte in der Spiegelung des Fensters, wie das Wasser meine Nase und meine Lippen streift. Ich sehe meine Spiegelung an und wir merken beide, dass wir alleine sind; so, wie Ada es mir gesagt hat.
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Der Verräter unter uns
Mystery / ThrillerUnsere Freunde bedeuten für uns einen Rückzugsort, zu dem wir immer wieder zurückkehren können, wenn es uns schlecht geht. Wir versprechen uns immer da zu sein, wenn wir gebraucht werden und stellen uns gemeinsam gegen den Rest der Welt. Doch ohne e...