Kapitel 1: Sie liebt es, einfach so irgendwo reinzuplatzen

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„Ich heiße Pinar, bin 18 Jahre alt und besuche die 12. Klasse des Robert-Koch-Gymnasiums. Meine Eltern kommen aus der Türkei, jedoch lebe ich bereits seit meiner Geburt hier, in Deutschland. Mein Traumberuf ist es, Anwältin zu werden. Schon seit meiner Kindheit träume ich davon, in einem Gerichtssaal zu sitzen und das alles, was dort passiert, mitzuerleben", sage ich und sehe meinem Gegenüber in die Augen.

Die Tür wird aufgeschlagen und Ada steckt ihren Kopf durch den Türspalt. Ich drehe mich wieder zum Spiegel um und blicke mir wieder selbst in die Augen.
„Und das ist meine beste Freundin Ada. Sie liebt es, einfach so irgendwo reinzuplatzen", lache ich und werfe mich auf das Bett. Sie kommt rein und setzt sich zu mir. „Übst du schon wieder für diesen Kurzvortrag nächste Woche?" Nickend bestätige ich ihre Vermutung. „Du musst doch nur 3 Minuten von dir selbst erzählen. Das ist doch nicht schwer! Zumal du dich eh gerne selbst reden hörst." „Tut mir Leid, dass ich das nicht so gut kann wie du", antworte ich kalt. Die Kälte in meinem Ton bemerkend, platziert sie sich näher bei mir und hält meinen Arm. „Man, so war das doch gar nicht gemeint. Du kannst es doch." Statt einer Antwort breche ich nur in ein schallendes Gelächter aus und erwarte von Ada, dass sie einsteigt, bemerke jedoch bei einem flüchtigen Blick zu meiner Seite, dass ihr die Verwunderung ins Gesicht geschrieben steht. Im nächsten Moment nimmt es einen ernsten Ausdruck an. „Nun lass doch mal den Vortrag für einige Stunden weg! Wir sind hier auf Klassenfahrt und müssen das genießen! Kommst du mit zum See? Umgeben von den Schwänen könnten wir uns zur Ruhe setzen." Sie zieht mich zu ihr an die Bettkante hoch, schlingt ihren rechten Arm um mich und fuchtelt mit dem anderen Arm in der Luft herum um mir das Szenario mit den Schwänen aufzumalen. Nach einem Moment des vorgespielten Nachdenkens stimme ich schließlich zu und springe auf.

Ich öffne die Tür zum Badezimmer, lasse diese offen, sodass ich sie weiter hören kann und trete vor den Spiegel, um meine Gesichtszüge zu mustern. „Gehen wir?" frage ich meine beste Freundin, aber auch mich selbst, erhalte aber keine Antwort, sodass ich wieder ins Schlafzimmer zurücktrete und sie erwartungsvoll anblicke. Zurück erhalte ich bloß einen leeren Blick. Was ist mit ihr los? Ohne zu blinzeln, blickt sie mich mehrere Sekunden lang an. „Geh du", sagt sie schließlich, legt sich dann hin und wendet mir den Rücken zu. „Was ist los?", frage ich und setze mich an den Rand des Bettes. Sie dreht sich nicht zu mir um, sondern sagt nur: „Nichts. Bitte, geh einfach." Ich kann nicht beschreiben, was in diesem Moment in mir vorgeht. Ich bin verblüfft und verstehe nicht, wieso sie plötzlich nicht mehr raus möchte, doch ich schaffe es nicht, etwas zu sagen. Aus irgendeinem Grund kommen mir keine Worte mehr über die Lippe, sodass ich zum Schweigen verurteilt bin und wie paralysiert das Zimmer verlasse.

Die Tür ziehe ich hinter mir zu und lasse den Türknopf los. Ich halte kurz inne und atme durch, bemerke dann aber, dass es überhaupt keinen Sinn macht, alleine am See zu sitzen und betrete das Zimmer wieder. Zu meiner Überraschung sehe ich Ada weder auf einem der Betten noch sonst wo im Raum und ich entscheide mich dazu, auf der Toilette nachzusehen. "Ada? Ich bleibe doch hier und ich werde auch nicht gehen. Komm damit..." Die Tür zum Badezimmer ist nicht abgeschlossen, sodass ich eintreten kann, jedoch ist sie auch nicht dort. "...klar", vollende ich noch meinen Satz und wundere mich, wo sie sein kann.

Ich verlasse den Pavillon, in dem sich unser Abteil befindet, und vor mir erscheint in einigen Dutzend Metern Entfernung der Speisesaal. In dieser Dunkelheit, die den noch rötlichen Himmel immer mehr und immer schneller einnimmt, sticht es groß und einschüchternd aus der Menge der Gebäude heraus und scheint zu rufen. Es ruft meinen Namen.

Mit Schritten im Schneckentempo schleppe ich mich durch die einzelnen Räume im Speisesaal. Ich versuche zwar, schneller zu laufen, doch bekomme ich es nicht hin, meine Geschwindigkeit zu erhöhen. Es fühlt sich so an, als wäre dies bereits die Schnelligkeit, die ich gerade noch so aufrechterhalten kann. Nacheinander durchstreife ich die verschiedenen Orte:

Der Verräter unter unsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt