Kapitel 4: Ich weiß nur, dass eine Leiche gefunden wurde

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Pinar

Wo bin ich?
Meine Augenlider fühlen sich wie eine schwere Last auf meinen Augäpfeln an, fast so, als würden sie mich davon abhalten wollen, die Augen zu öffnen. Ich versuche aufzustehen, falle dabei jedoch fast wieder hin. Schließlich schaffe ich es, meine Augen zu öffnen und erkenne, dass ich mich in der Ecke der Toilette befinde. Ich habe auf diesem Toilettenboden gesessen. "Eklig!" Ich springe zum Waschbecken, wedle mit einer Hand vor dem Sensor herum und seife dann meine Hände ein. Ich schrubbe mir die Handflächen und Fingerzwischenräume ab und versuche so den Dreck zu entfernen, den ich mir am Boden zugezogen habe.

Mein Kopf tut weh, also massiere ich mit meinen Fingern die Schläfen und betrachte meinen Kopf im Spiegel, um zu sehen, ob sich dort irgendwo Schmutz befindet. Als ich mir selbst in die Augen schaue, läuft mir dann ein kalter Schauer über den Rücken. Urplötzlich wird mir bewusst, wieso ich mich hier befinde. Mir wird so, als würde der Schuss erneut in meinen Ohren schallen und ich merke, dass mir übel wird. Dieser Junge, dieser Mann, oder nein, dieses Wesen, WAS war das?

Ich beeile mich, die Toilette zu verlassen und laufe den Gang entlang. In meinen Gedanken schwirren ständig diese Person und dieser Schuss herum. Die letzten Worte, die Ada mir am Telefon sagte, als sie mich stotternd fragte, wo ich sei, wiederholen sich die ganze Zeit und lassen mir keine Ruhe. Ich versuche schneller über den Gang zu laufen, schaffe es aber nicht viel flinker und fühle mich noch nicht ganz sicher auf den Beinen. Ich versuche tiefer einzuatmen, merke aber, dass ich nicht genug Kraft habe und dass mein Atemversuch schnell in ein ineffektives Schnauben entartet.

Ich schleppe mich in das Treppenhaus, halte mich am Geländer fest und gleite herunter. Dabei überspringe ich immer wieder einige Stufen, so auch die letzte, sodass ich, unten angelangt, umknicke und auf meinem Knie lande. Schlagartig werde ich in meinen Traum zurückversetzt, in dem es begann zu bluten. Nein, das darf nicht sein, der Traum darf nicht zur Realität werden. Es schmerzt zwar, mehr scheint jedoch nicht zu sein, sodass ich mich etwas beruhige. Ich richte mich wieder auf und laufe aus dem Treppenhaus heraus. Sobald ich wieder draußen bin, kehren die Geräusche der Party zurück. Ich befinde mich nun beim Eingang und ich sehe, wie einige Menschen hinaus auf die Terrasse laufen, während andere wieder zurück in den Saal gehen.

Ich erkenne eine mir bekannte Gestalt, die gerade die Eingangshalle betritt: Hazal. Sie trägt einen nachdenklichen Blick und als sie mich bemerkt, kommt sie auf mich zu. Hazal und ich kennen uns bereits seit dem Kindergarten, damals waren wir beste Freundinnen. Auch heute sind wir noch in der gleichen Gruppe von Freunden, auch wenn wir persönlich nicht mehr ganz so eng sind, wie wir es einmal waren. Eigentlich wollte ich in den Festsaal, weshalb es mir überhaupt nicht passt, jetzt angesprochen zu werden. Aus diesem Grund überlege ich mir eine Ausrede, die mich das Gespräch schnell beenden lässt, wenn sie mich auf meinen Zustand anspricht. Zu meiner Überraschung fällt es ihr jedoch gar nicht auf. "Können wir bitte reden?" Ich erkläre ihr, dass es später besser passt und wende mich bereits zur Eingangstür vom Saal, doch dann bemerke ich ihren Griff an meinem Handgelenk. "Wir MÜSSEN reden. Mir ist das WIRKLICH wichtig." Nun wirkt sie nicht mehr nachdenklich, sondern vielmehr entschlossen und bestimmt. Ich schüttle mein Handgelenk, sodass sich ihr Griff lockert und führe aus, dass es gerade nicht geht. Beim Laufen ruft sie jedoch noch einmal, nun meinen Namen, und ich seufze auf, drehe mich jedoch nicht zu ihr. "Stimmt etwas bei dir nicht?", ruft sie. Ich finde nicht mehr die Motivation, ihr zu antworten und recke stattdessen meine beiden Daumen so in die Höhe, dass sie sie sehen kann und gebe ihr so ein Zeichen, dass alles gut ist. Ihre Reaktion sehe ich nicht mehr, doch interessiert mich das in diesem Moment auch nicht und ich gelange endlich in den Saal.

Im Vergleich zu vorhin ist es nun nicht mehr hell und viel lauter. Dafür sind die Tische nicht mehr alle voll, da viele der Gäste auf der Tanzfläche sind. Ich dränge mich an den anderen Schülern vorbei, auf der Suche nach etwas, von dem ich selbst nicht weiß, was es ist. An mir huscht ein Mädchen vorbei, das mich nur knapp verfehlt und ich blicke ihr hinterher. Eine Sekunde später rempelt mich jemand an und ich werde zur Seite geschubst. Er deutet mir eine Entschuldigung an, dreht sich dann aber sofort wieder weg und ruft dem Mädchen hinterher: "Felina, sei doch jetzt nicht sauer. Komm zurück!" Ich blicke ihnen gedankenverloren hinterher, bis ich angesprochen werde. Neben mir erscheint nun Cansu. Auch sie gehört zu unserer Gruppe und ist die Cousine von Ada. Was sie gesagt hat, habe ich nicht ganz verstanden. Erst als sie eine Hand auf meiner Schulter ablegt und besorgt nachfragt, was los sei, fühle ich mich wieder klarer. Sie führt mich zu einem Tisch, wo auch Burak sitzt, der ebenso ein guter Freund von uns ist und zieht einen Stuhl nach hinten, um mich auf diesen herunterzudrücken, damit ich mich setze. Ich blicke zu Burak, dieser scheint mich jedoch keines Blickes zu würdigen. Jetzt fehlt eigentlich nur noch mein Bruder, doch ich weiß, dass er nicht auftauchen wird.

Cansu zieht einen Stuhl heran und setzt sich direkt vor mich, um mich erneut dazu anzuregen, ihr zu erzählen was geschehen ist. "Ada ist weg", bringe ich dann schließlich heraus und merke, wie schwer mir dieser Satz fällt und dass meine Augen feucht werden. Aus dem Blickwinkel merke ich, wie Burak mich schlagartig anstarrt. "Wohin ist sie gegangen?" Sie fixiert mich und ich bemerke, dass Burak nicht mehr auf mich schaut, sondern sie starr ansieht. Ich schaffe es nicht, etwas Klares zu formulieren und stelle nur fest, dass jeder Versuch in ein Stottern übergeht. Mein Handrücken wird plötzlich nass, wodurch mir erst bewusst wird, dass Tränen sich langsam einen Weg über meine Wangen bahnen und auf mich abtropfen. Während mich Cansu gerade noch verwirrt ansah, bekomme ich mit, wie dieser Ausdruck aus ihrem Gesicht weicht und sie langsam zu verstehen scheint, wovon ich spreche, sodass sie zunehmend erschrocken wirkt.

Gegenüber von uns erhebt sich Burak und verkündet, dass er Hazal suchen wird, da sie bereits länger weg ist und macht sich schon bereit. Abrupt springt Cansu auf, sodass ich kurz zurückschrecke und befiehlt ihm dann, dass er hier bleiben solle und sie Hazal selbst suchen werde. Burak will erst protestieren, gibt nach einem wortlosen Austausch mit ihr aber nach und setzt sich widerwillig hin. Sie lehnt sich noch einmal mit dem Oberkörper zu mir nach vorne und erklärt mir, dass ich hier warten soll und sie sich umsehen wird und dann verschwindet sie und ihre Silhouette verblasst inmitten der tanzenden Personen immer weiter.

An der Decke des Raums hängt ein Projektor mit dem man Fotos und Videos auf die riesige weiße Wand projizieren kann. Es sieht so aus, als ob der Projektor gerade vorbereitet werden würde, doch mir ist egal, was jetzt für Fotos oder Videos gezeigt werden. Burak und ich tauschen kein Wort aus, dazu wäre ich jetzt glaube ich auch gar nicht in der Lage und als ich ihn ansehe, bemerke ich, dass auch er nicht im besten Zustand zu sein scheint: er blickt stur zu der Leinwand und spielt mit seinen Händen herum. Beim Verfolgen von seinem Blick erkenne ich, dass James gerade vor dem Projektor steht und eine Rede beendet. Erst jetzt wird mir bewusst, dass es um uns herum still geworden ist. „... jetzt seht ihr schließlich das Erinnerungsvideo von unseren Kursfahrten im letzten Sommer", bekomme ich noch mit. Applaus ertönt. Bilder von den Schülern aus meinem Jahrgang erscheinen, an Orten, die mir meist unbekannt sind. Erst als die Fotos aus London gezeigt werden, wo ich während meiner Kursfahrt gewesen bin, erkenne ich die Ortschaften. Als dann Bilder auftauchen, auf denen Ada abgebildet ist, melden sich meine Kopfschmerzen zurück, die ich bisher versucht habe, zu unterdrücken. Sie nehmen ein unerträgliches Maß an und zerren meinen Kopf in alle Seiten auseinander und nehmen mit jedem weiteren Foto, auf dem sie abgebildet ist, weiter zu. 

Um mich herum fangen die Menschen an den Saal zu verlassen, doch ich betrachte weiter die Leinwand. Die gezeigte Aufnahme verändert sich nicht mehr und ist bei einer Pose von Ada und mir vor dem Big Ben stehengeblieben. Ich erhebe mich und stütze mich am Tisch ab. Meine Sicht ist leicht verschwommen und ich fühle mich schwach auf meinen Beinen. Ich kann mich einfach nicht mehr vom Fleck bewegen. Während die Menge nach draußen hinausströmt, höre ich jemanden in Kopfhörer hineinschreien. "Es hat hier angefangen zu brennen und draußen wurde anscheinend jemand gefunden!" Mein Herz und mein Kopf befinden sich in einem unerbittlichen Wettbewerb, wer kräftiger pulsiert. Immer stärker, immer schneller, sie übertönen einander. Jemand wurde gefunden? Obwohl ich bereits dezent verwischt sehe, erkenne ich das Mädchen noch. Sie ist vorhin vor dem Jungen weggelaufen, der ihr hinterherrief. "Ich weiß nur, dass eine Leiche gefunden wurde, mehr weiß ich noch nicht! Ich rufe gleich wieder an!" Auch sie rennt nun los.

An der Eingangstür sehe ich, wie Hazal sich gerade durch die Menschen hindurchquetscht, um reinzugelangen. Ich gerate ins Wanken und sehe noch unklarer. Meine Kopfschmerzen beginnen anscheinend, mich auszuknocken. Auch Burak sitzt nicht mehr am Tisch und ich erkenne ihn, wie er zur Tür rennt und versucht, Hazal aufzuhalten, um sie mit rauszubringen. Sie schubst ihn zur Seite, wendet sich um ihn herum und erhöht ihr Tempo. Er blickt ihr hinterher - im Kampf mit sich selbst wägt er ab, ob er sie verfolgen soll, dreht sich dann jedoch um und rennt mit den anderen hinaus.

Ich sehe nur noch, wie Hazal mit schnellen Schritten und einem wütenden Gesicht auf mich zurennt und - falle um.

Der Verräter unter unsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt