Kapitel 5: Die Frage ist nicht, ob ich tot bin

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Pinar

Ich konnte es nicht verhindern. Ich konnte es nicht verhindern... ICH. KONNTE. ES. NICHT. VERHINDERN!

"Freunde für immer?" Ada? " 'Wir werden in schlechten Zeiten niemals alleine sein', sagten sie. Wir glaubten früher wirklich daran, dass wir immer zusammen sein würden, oder?" Ich öffne meine Augen und vor mir sitzt Ada auf einer Art Thron, sie trägt ein weißes Kleid, es sieht so aus wie ein Brautkleid und sie lacht schnippisch, als sie sich in einem kleinen Handspiegel betrachtet und sich für umwerfend erklärt. Links und rechts von ihr befindet sich jeweils ein Schwan, die sich neben ihrem Sitz auszuruhen scheinen und nur gelegentlich mit ihren Flügen flattern. "Auch du hast jetzt gemerkt, dass das alles nur leere Worte waren, oder?" Sie erhebt sich aus ihrem Thron und stört somit die Ruhe ihrer Begleiter, sodass diese davongleiten, sich aber wieder an sie annähern. Sie läuft an mir vorbei und stellt sich hinter mich. Sie drückt mich hart an meinen Schultern herunter und ich habe Angst, dass ich auf den Boden falle, doch zu meiner Überraschung falle ich auf einen Stuhl, sodass ich jetzt sitze. Sie beugt sich nach vorne und umschlingt mich mit ihren Armen, bevor sie ihre Wange an meine presst. "Du warst alleine und keiner war da. Keiner war bei dir. Auch du hast letztendlich gemerkt, dass alles, was wir uns jemals erzählten, einfach nur Ausreden waren. Ausreden, die verdecken sollten, das wir eigentlich nur in einem Film mitspielen. Ein Film, in dem unsere Freunde die verzichtbaren Nebendarsteller sind, sie kommen und gehen. All das Gerede von der ewigen Freundschaft verpufft ganz plötzlich, wenn unser Nutzen für sie entfällt." Burak kommt mir in den Sinn, der mich einfach in dem Zustand am Tisch sitzen gelassen hat und selbst rausgerannt ist. Ada sagt so düstere Sachen, sieht dabei aber so aus, als würde sie mir gerade von einer wunderschönen Erkenntnis berichten. Sie entwirrt ihre Arme und gelangt wieder in meiner Sichtweite. Jetzt bückt sie sich vor mich hin, hebt mein Kinn an, sodass ich ihr direkt in die Augen schaue und nimmt dann meine Hände. "Wir selbst sind die Hauptdarsteller und es werden auch wir sein, die am Ende bei uns bleiben. Niemand sonst." Sie drückt meine Hände fest, küsst sie und lässt sie dann los, um sich zwei Schritte von mir zu entfernen und sich mit ihrem Kleid um ihre eigene Achse zu drehen. "Aber heute bist du hier!" Die Freude in ihrer Stimme, dieses Glück, das ihr ins Gesicht geschrieben steht, es verwirrt mich. Bei dem, was sie gerade sagte, würde man erwarten, dass sie wütend ist, dass sie wenigstens einen Funken Hass mit sich trägt, doch es ist das komplette Gegenteil der Fall. So, wie Ada hier gerade vor mir steht, wirkt sie gar nicht mehr wie von dieser Welt. Sie scheint von allem Weltlichen befreit und zur Erlösung gelangt zu sein. In diesem Moment schlägt mir erstmals die nackte Wahrheit wie eine Faust in meine Visage: sie ist weg.

"Wir sollten langsam los. Die Trauung fängt gleich an." Hinter ihrem Bein tritt einer der Schwäne hervor und transportiert einen weißen Rosenstrauß in seinem Schnabel. Trauung? Sie nimmt den Strauß des Schwans entgegen, dreht sich um und läuft mit langsamen, aber gleichmäßigen, Schritten zur Tür. "Du als meine Trauzeugin willst doch nicht zu spät kommen, oder?" Trauzeugin?

"Ada?", sage erstmals auch ich etwas. "Hm?" Sie bleibt stehen und wartet auf meine Worte. "Bist du tot?" Ich bin erschrocken, dass mir diese Worte ohne Überlegung so leicht von der Zunge gegangen sind. Ich bin vollkommen ruhig. Sie dreht ihren Körper und ihren Kopf leicht nach hinten, sodass sie mich ansehen kann und antwortet erst dann grinsend: "Die Frage ist nicht, ob ich tot bin." Dann macht sie eine Pause. "Du solltest dich lieber fragen, seit wann ich schon nicht mehr am Leben bin." Ada... Doch auch jetzt schlägt mein Herz nicht schneller.

"Wer ist es? Wen heiratest du?", frage ich sie, anstatt noch näher auf das einzugehen, was sie gerade sagte. "Na wen wohl." Sie legt den Kopf in den Nacken und lacht laut, dabei erfüllt ihr Lachen den ganzen Raum. "Wir werden endlich eine richtige Familie." Da überkommt auch mich ein Lächeln. "Na endlich. Wurde ja auch mal Zeit!", erwidere ich. "Ach ja, Pinar? Fang bitte du den Strauß, wenn ich ihn später werfe. Es wäre schön, wenn die Verbindung zu meiner besten Freundin bestehen bleibt." Im nächsten Augenblick wirft sie den Strauß nach hinten, genau so, dass ich ihn auffangen kann.

Als ich mir die Rosen ansehe, haben sie jedoch nicht mehr die weiße Farbe der Unschuld und der Reinheit, sondern sind pechschwarz.

Der Verräter unter unsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt