Kapitel 2: Du gehst zu weit

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13. Februar 2015, Freitag

Pinar

Noch liege ich im Bett, mit den Augen starr die Decke fixierend. Es vergeht eine gewisse Zeit. Sind es Sekunden oder gar Minuten? Ich weiß es nicht, wenn ich neu aufgewacht bin, trügt mich mein Zeitgefühl oft. Ich stemme mich mit dem Gewicht gegen die Matratze und erhebe mich. Gegenüber von meinem Bett befindet sich ein Wandspiegel, vor dem ich nun trete und mich selbst ansehe. Mit dem rechten Zeigefinger wickle ich einige Strähnen um ihn herum, während ich den Blick nicht von mir lasse und versuche, meine Gesichtszüge zu verfolgen. Neben dem Spiegel ist, etwa auf Kopfhöhe, ein kleiner Kalender angebracht. Ich mache einen Schritt nach rechts, sodass ich nun vor ihm stehe. "Freitag, der 13.", murmele ich und ziehe mit der linken Hand das Blatt ab, auf dem noch das Datum von gestern gekennzeichnet ist. Nach einem letzten Blick in den Spiegel, befreie ich meinen rechten Zeigefinger von den Strähnen, drehe mich weg und hüpfe summend zum Schreibtisch, der direkt neben der Zimmertür steht.  Durch das Fenster scheinen Sonnenstrahlen auf den Tisch, sodass mein Laptop sich warm anfühlt, als ich ihn zu mir ziehe.

Ja, ich freue mich auch schon. :) schreibe ich nach einer halben Stunde und lese es mir selbst währenddessen vor. Ich muss jetzt weg. Wir können später wieder schreiben. füge ich noch hinzu. Gerade will ich meinen Laptop herunterfahren, da werde ich von einer mir sehr gut bekannten Stimme unterbrochen: "Hey!" Ohne Vorwarnung breitet sich in mir ein Gefühl der Fröhlichkeit aus, sodass ich aufspringe. Ada betritt mein Zimmer. Ich springe vom Stuhl auf und umarme sie fest. Ich merke, dass ich bei der Umarmung die Luft angehalten habe und atme aus. "Ähm, Pinar?" Da merke ich, dass ich mich immer noch nicht von ihr gelöst habe und trete einen Schritt zurück, stolpere dabei aber über den Stuhl und falle fast hin, doch sie hält mich an meinem Arm zurück und ich erlange mein Gleichgewicht wieder. "Wofür war das gerade?" "Ach, nichts. Einfach nur so".  Von meinem Traum erzähle ich ihr nichts. Sie hebt eine Augenbraue und sieht mich skeptisch an. „Was machst du da?", fragt sie im nächsten Moment grinsend und hat sich, noch bevor ich wieder bei mir bin, schon an mir vorbei gestohlen und als ich mich gefasst habe, steht sie schon vor meinem Laptop und mustert den Bildschirm. 

"Was machst du eigentlich immer auf diesen komischen Seiten?", lacht sie und hebt den Laptop an, um ihn in ihren Händen zu tragen und so durch den Raum zu laufen. "Das ist keine 'komische Seite'. Das ist ein ganz normales Forum, wo man sich mit anderen Leuten austauschen kann." Ich laufe ihr hinterher und hoffe, dass sie ihn mir zurückgibt, sie scheint jedoch gar nicht daran zu denken. "Sind da nicht nur Gestörte unterwegs?" In dem Moment ertönt ein Nachrichtenton, den ich sofort erkenne: ich habe eine neue Privatnachricht auf WorldofThoughts.de  erhalten, also auf der Seite, über die sie sich gerade lustig macht. Ich schließe die Augen und massiere mir die Schläfen, höre aber, wie sie rumtippt und das macht, vor dem ich mich fürchtete: "Vielleicht könnten wir uns irgendwann ja auch mal sehen", liest sie vor und ich spüre den Spott in ihrer Stimme. "Und was ist das überhaupt für ein Nutzername: Preacher of the Night? Gehört er zu einer geheimen Online-Sekte? Und wie heißt du? LonelyGirl36?" Mir läuft es kalt den Rücken hinunter und ich presse meine Zähne aufeinander. Sie scrollt ein wenig herum und blickt dann zu mir, bevor sie den Bildschirm umdreht und auf meinen Namen zeigt. "Ich bin in Neukölln geboren, nicht in Kreuzberg, daher die 44", versuche ich mich zu rechtfertigen und kratze mich am Hinterkopf, doch mehr als eine Witzfigur werde ich in ihren Augen heute wohl nicht mehr sein.

"Dieser Preacher hat nicht einmal ein Profilbild, mit was für Leuten schreibst du da eigentlich?" Ich atme einmal tief aus und fülle dann meine Lunge, so sehr ich es kann und versuche dann zu erklären, dass es mir darum geht, mich mit unbekannten Menschen über Dinge auszutauschen, über die ich gerne nachdenke, ohne zu wissen wie sie aussehen und ohne dass sie wissen, wie ich selbst aussehe. Sie legt den Kopf in den Nacken und lacht, was mich langsam ein wenig wütend macht. Sie legt den Laptop auf dem Tisch ab und drückt auf den Tasten herum. Ich versuche den Laptop zu greifen, doch sie blockiert mich mit ihrem freien Arm. "Du gehst zu weit", sage ich. "Gib mir den Computer zurück!" Sie hört auf zu tippen und stellt sich mir entgegen. Wir sind fast auf Augenhöhe, ich bin nur einige wenige Zentimeter größer als sie. Als sie jedoch den Mund öffnet, fühle ich mich umgehend als die kleinere Person, die aufblicken muss, um den Augenkontakt bewahren zu können. "Wenn jemand dir sein Gesicht nicht zeigt, dann liegt es daran, dass er keines hat, mit dem er dir entgegentreten kann. Merk dir das. Nur ein Idiot würde wirklich zufrieden damit sein, mit jemandem zu schreiben, zu dem man kein Gesicht zuordnen kann." Dann erkenne ich etwas in ihrem Gesicht, was nicht mehr Spott ist, sondern nur noch pures Mitleid enthält. Sie streicht mir mit den Händen über die Schultern und schmollt. "Aber wieso wundere ich mich bei dir überhaupt." Sie presst mit ihrem Zeigefinger auf die Enter-Taste, ohne dass sie dabei den Blickkontakt abbricht und stolziert dann zur Tür. Dort angekommen dreht sie sich noch einmal zu mir um. "Später wirst du mir danken. Wir sehen uns heute Abend." Sie zwinkert und ist dann verschwunden.

Erst als sie weg ist, spüre ich, dass es in mir bebt und das Pulsieren des Blutes in meinen Adern.. Mit schlotternden Beinen schmeiße ich mich auf den Stuhl und sehe ängstlich auf das Display.
heute, Gloria Event Center, 19:30 Uhr, ich trage einen Blumenkranz mit weißen Rosen auf dem Kopf, lonelygirl meets her Preacher :) 
Mit jedem Wort, das ich von dieser Nachricht lese, verzweifle ich ein wenig mehr. Diese Worte, sie klingen einfach nicht nach mir, sie passen einfach nicht zu der Art, die ich bisher immer vertreten habe, dass so etwas passiert, wollte ich nicht. Ich wollte selbst entscheiden, wann ich etwas tue und wie ich es tue. Und doch sitze ich jetzt hier und muss realisieren, dass Ada jemanden in meinem Namen zu einer Winter-Party meines Jahrgangs eingeladen hat. Ich bin eine Schachfigur in ihrem Spiel, das sich "mein" Leben nennt.


Der Verräter unter unsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt