Kapitel 3: Deine Handlungen wurden prophezeit

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Pinar

Um kurz vor 20 Uhr komme ich vor dem Eventsaal an - zu spät, aber das habe ich meinem Bus zu verdanken, der ausgefallen ist. Zögernd betrachte ich das Gebäude und mustere dann den Kranz aus weißen Rosen in meinen Händen. Wenn ich mir diesen Blumenkranz aufsetze, dann spiele ich das Spiel nach Adas Regeln, das ist mir bewusst, aber bleibt mir wirklich eine andere Möglichkeit? Ich hätte nicht erklären können, dass ich das nicht selbst geschrieben habe. Eine Antwort habe ich auf die Nachricht sowieso nicht mehr erhalten. Vorsichtig setze ich mir den Kranz auf, obwohl sich alles in mir dagegen sträubt.

Mit dem Kopf nicke ich in Richtung des Eingangs und laufe zur Tür. Bereits beim Öffnen der Tür schlägt mir laute Musik entgegen. Drinnen angekommen, muss ich feststellen, dass es unglaublich voll ist. Die Party wurde organisiert von James und seiner Freundin Mary, die beide in meinem Jahrgang sind. Es ist nicht die erste und wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht die letzte Feier sein, die die beiden schmeißen. James' Familie, die McKinleys, sind wohlhabend. Gemeinsam mit seinem kleineren Bruder, Johnny, hat er schon einige Feten veranstaltet. Mary hingegen kommt zwar nicht aus einer wohlhabenden Familie, hat aber, durch ein Auftreten in Werbespots und Gastauftritten in einigen Seifenopern, ebenso einen gewissen Bekanntheitsgrad an unserer Schule erlangt. Ich hörte schon, dass James' Partys immer voll seien, aber dass so viele Leute da sein würden, hätte ich mir nicht gedacht. 

Während ich zwischen den Tischen hindurchlaufe, habe ich die ganze Zeit dieses unangenehme Gefühl, dass mich alle wegen dem Ding in meinen Haaren beobachten. Ich drehe mich um meine eigene Achse und versuche Ada oder einen von den anderen zu erkennen, entdecke aber Niemanden, zu dem ich mich setzen würde. Gerade, als ich wieder raus will, um nicht zwischen Dutzenden von Tischen stehenbleiben zu müssen, erreicht ein Anruf mein Handy. "Ada? Du schuldest mir eine..." "W-wo bist du?", unterbricht sie mich. Ihre Stimme zittert und ich spüre ihre Angst durch das Telefon und ich bin schlagartig aufmerksam. Noch bevor ich etwas erwidern kann, höre ich das Geräusch einer Toilettenspülung und im nächsten Moment ist die Leitung tot.

Ich winde mich durch die Zwischenräume zwischen den Tischen, die mir noch enger als vorher erscheinen und stoße dabei fast gegen einige andere Gäste. Als ich am Gang angelangt bin, laufe ich schneller los und zur Toilette, muss aber feststellen, dass diese abgeschlossen ist. Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich instinktiv, das Treppenhaus aufzusuchen und zu dem WC im nächsten Stockwerk zu gehen. Dieses ist nicht abgeschlossen, sodass ich es betreten kann. Ich stürze hinein und rufe ihren Namen, der von den Wänden der Toilette zurückschallt. Im nächsten Moment knallt die Tür mit so einer Wucht zu, dass ich wieder in meinen Traum zurückbefördert werde und das Echo beginnt, in meinem Kopf zu schallen. Gerade als ich kurz vor der Verzweiflung bin, erhalte ich erneut einen Anruf, den ich fast zeitgleich annehme. "Wo bist du?!", frage ich atemlos und bin somit diesmal die Person, die als Erstes spricht.

Urplötzlich öffnet sich vor mir die Tür zu einer der Toiletten und versetzt mir einen Schock, sodass ich zusammenzucke. Ein Mann tritt heraus, doch als ich in sein Gesicht blicke, erstarre ich. Ich erblicke das Antlitz eines unbekannten Menschen, der mich voller Kälte ansieht. Nein, das stimmt nicht. Das, was ich in seinem Gesicht erkenne, ist keine Kälte. Um ehrlich zu sein, erkenne ich gar nichts. Ich sehe zwar Augen und die Lippen, auch die Nasenlöcher sehe ich, doch wenn ich versuche, mir sein Erscheinungsbild einzuprägen, meldet mein Gehirn einen Error. Ist seine Fassade überhaupt die eines lebenden Wesens? Sie hat keinerlei Ausdruck. Nein, dieser Mann hat irgendwas an seinem Schädel, doch es ist mit Sicherheit kein Gesicht. 

Erst jetzt bemerke ich, dass er eine Pistole auf mich hält. Plötzlich höre ich einen Schuss und den fast zeitgleichen Aufschrei Adas aus meinem Handy und zucke zusammen. Ihr Schrei übertrifft sogar die schallenden Töne in meinem Kopf und irgendetwas in mir scheint abzusterben. In ihrem Laut steckt Not, in ihm steckt Schmerz, doch das Schlimmste: dieser Hilferuf - ich habe das Gefühl, dass er das Ende eines Lebens darstellt.

Dann höre ich die Stimme des Mannes: "Alles, was ich gehört habe stimmt. Deine Handlungen wurden prophezeit und du hast den Plan erfüllt, der für dich ausgewählt wurde." In seiner Stimme erfasse ich Anerkennung, die nicht mir gilt. und ich sehe, wie er den Lauf seiner Schusswaffe poliert und sie dann entsichert. Dann sieht er mir direkt in die Augen:
„Schön, dich kennenzulernen, Pinar."
Und das erste Mal erkenne ich in seinem Gesicht ein Anzeichen, dass in dieser Hülle wirklich ein Mensch steckt:

Er grinst - und ich will tot sein.

Der Verräter unter unsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt