Kapitel 6

34 4 0
                                    

Ich finde mich im Wald wieder, um mich herum überall Bäume, Äste und Laub. Die Sonne strahlt zwischen den Blättern der Bäume auf den Waldboden. Es geht ein leichter Wind, und endlich bin ich alleine. Zusammen gekauert sitze ich auf einem dicken Ast, die Hände um meine Beine geschlungen, wie ein Häufchen Elend. Wie konnte das alles nur passieren? Ich halte das nicht aus. Ich mache mir nichts draus, dass ständig neue Schluchzer hochkommen und ich ununterbrochen weine. Hier würde mich schließlich niemand finden. Ich fühle mich so leer, und doch so voll. Und ich habe absolut keine Ahnung was ich machen soll. Ist es wirklich möglich, dass Liam und ich die letzten 2 Bestimmten sind, die noch fehlen?  Ist es möglich, dass wir wirklich in einer anderen Welt gelandet sind? Ist es wahr, was diese Abigail uns gestern Abend erzählt hat? Und ist Tante Ella wirklich tot? Noch nie in meinem Leben habe ich mir gewünscht, dass mein Leben ein Albtraum wäre, aber jetzt würde ich vieles dafür geben, mich nur kneifen zu müssen um endlich wieder aufzuwachen. In meinem Bett, in Deutschland. Und dann würde ich die Treppe runter laufen und Tante Ella sehen und ihr um den Hals fallen und glücklich sein. Aber so läuft das nun mal nicht. Es kommt immer anders mal denkt oder hofft. Und das ist das deprimierende am Leben. Brooklynn, wem machst du denn hier was vor? Du bist hier, und du weißt genau dass es hier kein Zurück in deine Welt gibt. Du weißt nicht was mit Tante Ella passiert ist, auch wenn sie wahrscheinlich tot ist, du kannst es nicht zu 100 prozent sagen. Und wieso sollten die Menschen hier dich anlügen? Darin besteht keine Logik, sie sagen die Wahrheit. Und das weißt du auch. Du solltest versuchen das Beste daraus zu machen. Umso besser du das hier hinter dich bekommst, desto schneller kannst du auch wieder heim!, sage ich mir. Aber wohin würden Liam und ich gehen, jetzt, wo tante Ella nicht mehr am Leben ist? Bei dem Gedanken schlucke ich. Ich muss das jetzt wohl einfach so akzeptieren, wie es ist. Und als ich das denke, weiß ich, dass es wohl ziemlich schwer werden wird. „Hey.“, sagt plötzlich eine Stimme hinter mir. Abrupt drehe ich mich um, und erkenne das Mädchen mit den kurzen braunen Haaren wieder, welches wohl auch einer der Bestimmten ist. Scheiße. Ich sehe bestimmt total verheult aus. Glücklicherweise bin ich wenigstens nicht geschminkt. „Hey“, sage ich. „Darf ich mich zu dir setzen?“, fragt sie mit einem vorsichtigen Lächeln. Ich nicke. Ich weiß nicht was ich sagen soll, deshalb lasse ich es einfach und ein paar Minuten schweigen wir uns an, was mir irgendwie unangenehm ist. „Wie hast du mich gefunden?“, platzt es aus mir heraus. Das Mädchen zuckt mit den Schultern. „Ich hab eigentlich gar nicht gewusst dass ich dich suche, bis ich hier angekommen bin und ich dich hier sitzen gesehen hab.“, meint sie mit einem Lächeln. Jetzt schaut sie mir direkt in die Augen, und ich bemerke, dass sie ziemlich jung aussieht, mit dem Pony, den kurzen haaren und den Sommersprossen auf ihrer Nase. „Okay, wow, das klingt irgendwie gruselig, aber daran sollte ich hier wohl schon gewohnt sein, nicht wahr?“, scherze ich, immer noch mit zittriger Stimme. Mich dafür hassend, beiße ich mir auf die Unterlippe. Sie lächelt schwach, aber es sieht eher aus wie ein bemitleidenswertes Lächeln. „Ich hab mich noch gar nicht vorgestellt, ich heiße Holly.“, sagt sie. Der Name passt wie die Faust auf’s Auge zu ihr, finde ich. Ich versuche ein Lächeln zu Stande zu bringen. „Ich bin Brooklyn, aber das weißt du sicher schon.“, antworte ich. Holly nickt. „Wie geht es dir, Brooklyn?“, fragt sie ernst. Ich weiß, dass sie eine ehrliche Antwort hören will, und dass sie das nicht einfach so fragt. Vorsichtig senke ich meinen Blick und starre auf den Boden. „Naja, nicht so gut. Aber halb so schlimm.“, sage ich. Holly legt eine Hand ganz vorsichtig auf eine meiner Schultern. „Ich weiß wie du dich fühlst. Ich musste ungefähr dasselbe durchmachen wie du, denke ich. Und es ist vollkommen in Ordnung, dass du geweint hast.“ Ich schaue sie jetzt wieder an, ihre großen Augen blicken mich direkt an, und ich sehe denselben Schmerz in ihnen, den ich gerade fühle. Und jetzt verspüre ich auch Mitleid mit Holly, auch wenn ich nicht weiß, was genau sie meint mit ‚ich musste ungefähr dasselbe durchmachen wie du.‘. „Das tut mir leid.“, sage ich zu ihr. „Da kann niemand was dafür. Weißt du, ich hab das akzeptiert und gelernt mit gewissen Dingen und meinen eigenen Gefühlen umzugehen, und sie zu kontrollieren. Das macht vieles einfacher.“, erklärt sie. Ich nicke nur. „Was ist dir passiert?“, platzt es aus mir heraus, ehe ich verstehe was ich da gerade gefragt habe. „Tut mir leid, das kam gerade einfach so raus.“, entschuldige ich mich schnell. „Ist doch nicht schlimm! Ich erzähl’s dir.“, sagt sie, bevor sie gedankenverloren ihren Blick auf die Blätter der Bäume richtet, die im schwachen Wind hin und her tanzen. „Da meine Mom eine von den Bestimmten war, wussten wir von Anfang an, dass eines ihrer Kinder diese Bestimmung erben würde. Aber lange Zeit hatten wir keine Ahnung, wen von uns es treffen wird, denn ich habe noch 2 Geschwister, Lucy – sie ist gerade mal 4 Jahre, und Lucas, der 19 Jahre alt ist. Auf jeden Fall wussten wir nicht genau, wen von uns es wohl treffen würde, bis zu dem Tag, an dem ich die Bilder gesehen habe. In meinem Kopf, weißt du? Schreckliche Bilder, und gute Bilder. Bilder von sich bekriegenden Menschen, von Morden und von Verlust. Aber auch Bilder von der Rettung der Bestimmten, von der Schönheit diesen Landes und natürlich von den anderen Bestimmten, und von dem Ort, an dem ich sie finden würde.“, sie macht eine kurze Pause. „Ich hab natürlich meiner Mutter davon erzählt, und sie wollte mir erst nicht glauben, niemand von unserer Familie hat gedacht, dass ich diejenige sein würde. Erst recht ich nicht. Ich hab damals die Trainingsstunden, die unsere Eltern jedem von uns drei aufgedrückt haben, nie richtig ernst genommen. Naja, wie auch immer. Ich musste mich dann von meiner Familie verabschieden. Das war vor 3 Jahren, als ich 14 war. Seitdem hab ich meine Familie nicht mehr gesehen.“. Einige Sekunden ist es still. Ich weiß  nicht was ich sagen soll, außer dass es mir leid tut für sie. „Das ist wirklich schlimm…“, sage ich. „Naja, weißt du, ich vermisse sie sehr. Aber das kann man nun mal nicht ändern, man muss das einfach hinnehmen so wie es ist, auch wenn’s hart ist. Und das hab ich.“. Sie schenkt mir ein Lächeln, und ich bewundere sie dafür, wie einfach sie darüber hat sprechen können. Eigentlich habe ich das Gefühl, ich sollte ihr jetzt auch von meinen Eltern erzählen, aber ich kann nicht. Das weiß ich. Aber bevor ich weiter darüber nachdenken kann, sagt Holly: „Du solltest auch wissen, dass ich weiß was du durchlebt hast. Ich meine dass mit deinen Eltern.“, sagt sie jetzt leiser. Meine Augen weiten sich, als ich begreife was sie meint. Woher zum Teufel weiß sie das? Hat Liam mit ihr geredet? Nein, das kann nicht sein. Er ist genauso unfähig darüber zu sprechen, wie ich. Ich bin unfähig irgendwas zu sagen und starre Holly einfach nur entsetzt an. Auf ihrer Stirn bilden sich Falten, und in meinen Augen sammelt sich schon wieder Flüssigkeit an, die alles vor mir verschwimmen lässt. „Oh nein, das wollte ich nicht! Ich dachte…ich dachte es wäre besser wenn du weißt das wir es wissen. Bitte wein nicht.“, sagt sie. Ich weiß, dass wenn ich jetzt spreche, anfangen muss zu heulen. Und das will ich nicht. „Woher?“, hauche ich, ein Wort, welches ich noch zustande  bekomme. „Abigail hat es uns erzählt. Sie findet dass wir voreinander keine Geheimnisse haben sollten, sodass wir uns vollkommen vertrauen können, das ist wichtig. Und natürlich um die Person, die du und dein Bruder seid, besser kennen zu lernen.“, erklärt sie. Ich glaube sie hat ein schlechtes Gewissen weil sie das Thema angesprochen hat und sie jetzt erst merkt, dass ich bei dem Thema überempfindlich bin. Ich atme tief ein und aus, um mich wieder zu fassen. Und das gelingt mir schließlich auch nach einigen Sekunden. „Verstehe. Ihr wisst also alles über mich und meinen Bruder, was irgendwie wichtig ist.“ Holly nickt vorsichtig. Ich ziehe meine Nase hoch. „Das ist ja spitze. Da fühl ich mich ja gleich viel besser!“, murmele ich ironisch. Aber bevor ich noch irgendwas anderes sagen kann, fällt mir Holly plötzlich um den Hals und drückt mich. „Du schaffst das schon, Brooklyn. Du bist nicht allein, und du wirst sehen, mit der Zeit wirst du mehr und mehr verstehen und akzeptieren. Und vor allem dazu lernen.“, flüstert mir Holly ins Ohr. Ich kann nicht sagen, wie gut diese Umarmung tut, auch wenn sie von einem Mädchen ist, das ich bis vor zehn Minuten nicht einmal gekannt habe. Aber das fühlt sich nicht so an, es fühlt sich an, als wäre sie bereits jetzt eine gute Freundin. Und jetzt fange ich an zu verstehen, was Abigail gemeint hat, als sie sagte die Bestimmten hätten eine besondere Verbindung. 

Die BestimmungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt