Kapitel 6

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,,Frau Dr. Reusch!", rief ich und winkte wahrscheinlich wie eine bescheuerte, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Sie lief vor mir, in Richtung Personalraum und wenn sie darin verschwand, wäre die Mission für heute gescheitert gewesen, etwas, was ich auf keinen Fall zulassen wollte. Die Leute um mich herum sahen mich skeptisch an, doch das ignorierte ich gekonnt. Viel wichtiger war, dass die Ärztin sich in diesem Momrent zu mir umdrehte und abrupt stehen blieb.

,,Hannah...", sie legte ihren Kopf schief und lächelte leicht. ,,Was kann ich für dich tun? Hast du was auf dem Herzen?"
Versuchte sie gerade die Oberpsychologin raushängen zu lassen? Das konnte ich echt nicht gebrauchen, auch wenn es ja nett war, dass sie sich anscheinend für meine Gefühlswelt interessierte. Hoffentlich würde das auch noch so sein, wenn ich mein Anliegen hervor gebracht hatte.

,,Ähh genau genommen ja! Es geht um Leo...", begann ich und überlegte, wie ich sie am besten fragen konnte, so, dass sie eigentlich gar keine andere Möglichkeit hatte, als zuzustimmen.
,,Das dachte ich mir schon fast", lächelte sie und schob sich ihr Klemmbrett unter den Arm, wahrscheinlich um zu zeigen, dass sie sich nur auf mich konzentrierte.

,,Ja... äh.., also er hat ja mit ihnen über diese Sache gesprochen. Das er... gerne mal einen Tag hier raus möchte und... Sie haben verneint. Also... da wollte ich mal fragen warum das absolut nicht möglich ist und ob Sie nicht mal eine Ausnahme machen können. Ich meine-"
,,Hannah...", so wie sie meinen Namen seufzte, konnte das schon nichts gutes bedeuten. Wahrscheinlich hatte ich es versaut, aber ich hatte die Frage ja auch nicht so gestellt, wie ich es mir vorgenommen hatte. War jedoch auch gar nicht so einfach, denn jetzt wo ich so vor ihr stand, war ich wahnsinnig nervös und ich merkte, wie meine dünnen Beine ein wenig zitterten. Ich hatte einfach Angst vor einem Nein.

,,Du weißt gar nicht, wie gerne ich Leo das ermöglichen würde, aber das geht einfach nicht. Sein Immunsystem ist geschwächt und die Ansteckungsgefahr da draußen ist sehr hoch. Das können wir nicht riskieren. Ich glaube wir wollen beide nicht, dass ihm etwas passiert, oder nicht?"
Gott, nach der Psychologin kam jetzt auch noch der Moralapostel oder was? Was war das denn überhaupt für eine Frage? Natürlich wollte ich nicht, dass ihm was passierte. Aber wie sagte er so oft? "Du kannst hier drin an Krebs sterben, aber auch an Langeweile". Er wollte leben. Etwas erleben. Und nicht hier drin versauern.

,,Ja aber... ich meine... wie oft stecken sich Leute im Krankenhaus mit irgendwas an? Das ist doch-"
,,Hannah...", wenn sie meinen Namen noch einmal so sagte, würde ich ausrasten. ,,Wir achten auf der Kinder- und Jugendstation sehr darauf, dass hier alles sauber ist und Bakterien kaum eine Chance haben. Du musst vernünftig sein. Und vielleicht kannst du mir einen gefallen tun und ihm vermitteln, dass es das Beste für ihn ist, wenn er sich hier erholt"
Ach, jetzt sollte ICH ihren Job übernehmen oder was? Ganz bestimmt nicht.

,,Dr. Reusch, er... er muss echt mal raus. Verstehen Sie das denn nicht? Waren Sie je so lange im Krankenhaus? Also als... Patientin natürlich! Versuchen Sie doch mal, sich in ihn hineinzuversetzen"
,,Glaub mir, das tun wir. Bei den jungen Patienten mehr als bei allen anderen!", ja natürlich, das merkte ich. ,,Und genau deswegen ist es uns so wichtig, dass Leo sich hier erholt. Es tut mir leid, Hannah", sie strich mir mitfühlend über die Schulter und ich musste mich wirklich zusammenreißen, ihre Hand nicht einfach wegzuschlagen.

,,Wie wäre es denn, wenn du mit Leo hier etwas unternimmst?" ,,Hier?", ich zog die Augenbrauen hoch und lachte kurz auf. ,,Was soll ich denn machen? Marathon Aufzugfahren? Diagnosen raten?", meine Stimme triefte vor Sarkasmus und wäre ich nicht so sauer gewesen, hätte es mir wahrscheinlich leid getan.
,,Es war nur ein Vorschlag, du könntest den Gemeinschaftsraum oder die Dachterasse nutzen, aber wenn du nicht möchtest...", sie zuckte mit den Schultern, nahm ihr Klemmbrett wieder in die Hände und bemühte sich um ein Lächeln.
,,Ich muss dan auch weiter. Bis dann, Hannah"

,,Ja, bis dann", murmelte ich, während sie von in ihrem weißen Kittel davon schwebte. Fuck, ich hatte komplett versagt. Es war nicht im Geringsten so gekommen, wie es mir vorgestellt hatte, aber hey, wenigstens hatte ich die Situation nicht verschlimmert. Wobei, vielleicht doch... ich hatte Leo sicher Hoffnung gemacht mit meinem Vorschlag, nochmal mit ihr zu reden. Verdammte scheiße!
Ich raufte mir die Haare, ehe ich mich mit hängenden Schultern auf den Weg zum Aufzug machte.
Eine Weile später saß ich auf dem Bett in meinem Zimmer, das Mathebuch, sowie mein Taschenrechner und all der andere Kram zu lernen vor mir, aber ich konnte mich einfach nicht konzentrieren.
Die ganze Zeit zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie ich Leo stattdessen einen Gefallen tun konnte. Die Mission ihn aus dem Krankenhaus zu kriegen, war also gescheitert. Sicher hätten wir versuchen können einfach abzuhauen, aber das war dann wirklich ein wenig zu riskant. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn wir einfach aus dem Krankenhaus türmten. Nachdenklich trommelte ich mit dem Bleistift auf mein Matheheft, während ich mein Blick durch mein Zimmer schweifen ließ, in der Hoffnung, von irgendwas inspiriert zu werden... aber ein offener Kleiderschrank, unzählige Klamotten auf dem Boden und ein unordentlicher Nachttisch, auf dem Süßigkeiten und Bücher rumlagen war nicht unbedingt das, was die Ideen nur so sprühen ließ.

Was hatte Dr. Reusch noch gesagt? Wir konnten den Gemeinschaftsraum oder die Dachterasse nutzen. Hmm... naja, der Gemeinschaftsraum war klein und eh schon zu voll gestellt, was sollte man da schon veranstalten? Aber die Dachterasse bot einige Möglichkeiten. Das erste, was mir in den Sinn kam, war lustigerweise eine Party. Gerade ich kam auf sowas, wo ich Partys doch eigentlich hasste... aber wahrscheinlich war die Idee sowieso nicht umzusetzen, denn ich war mir ziemlich sicher, dass Frau Dr. Reusch niemals einer Party zustimmen würde. Und das heimlich durchzuziehen war zu gefährlich, denn wenn wir erwischt wurden, würde Leos Stimmung bestimmt nur noch schlechter werden.

Leo war großer Film- und Serienfan, also wäre ein Filmabend definitiv eine Option. Kino unter freiem Himmel. Das wäre auf jeden Fall etwas, was Dr. Reusch befürworten würde, zudem hätten auch Leos Freunde etwas davon, denn so mehr daran teilnahmen, desto besser.
Das einzige Problem bestand darin, dass ich weder eine Leinwand, noch einen Beamer besaß und ohne die würde es wahnsinnig schwer werden, so etwas auf die Beine zu stellen. Wobei... mein Lieblingslehrer Herr Brose unterrichtete unter anderem Informatik und war auch immer für jegliche Technik verantwortlich. Die Schule hatte auf jeden fall den ganzen Kram, den man brauchte. Vielleicht konnte ich mir das Zeug für einen Abend ausleihen. Ich musste es einfach schaffen ihn zu überreden, denn je mehr ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir die Idee.
Jetzt musste das alles nur noch klappen und das war wohl die schwierigere Angelegenheit...

I will be your safety [Club der roten Bänder inspiriert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt