Kapitel 1

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,,Hannah, ich diskutiere jetzt nicht weiter mit dir. Du kommst mit und wenn ich dich eigenhändig aus diesem Haus zerren muss!", motzte meine Mutter mit hoher Stimme, die mir längst Kopfschmerzen verursacht hatte. Meine Eltern und ich standen gemeinsam im Flur, mein Vater im Anzug und wir jeweils im feinen Kleid. Es war Freitag und meine Oma hatte entschieden, ihren Geburtstag, nicht wie sonst üblich, bei Kaffee und Kuchen zu feiern, sondern bei irgendeinem fetzigen Italiener, bei dem ein Wasser schon acht Euro kostete. Tja, und ich wollte überall sein, nur nicht da. Nein, eigentlich wollte ich an einem ganz bestimmten Ort sein, wofür mich wahrscheinlich 99% der Bevölkerung für bescheuert erklärten.

Ich wollte nichts mehr, als zum Krankenhaus zu fahren, um Leo zu besuchen. Leider schienen meine Eltern etwas dagegen zu haben. Ich versuchte ihren Standpunkt zu verstehen, es war meine Oma, sie war jetzt 75 und ich brauchte nicht erwähnen, wie schnell das Leben zu Ende sein konnte. Aber versuchten sie auch meinen zu verstehen? Das Leben meines Freundes hätte theoretisch auch jeden Moment zu Ende sein können und ich wollte jede freie Sekunde mit ihm zu verbringen. Ich hatte einfach keinen Draht zu meiner Oma, so leid es mir tat das zu sagen. Sie war für mich eine alte, motzige, unzufriedene Frau, die alles und jeden um sich herum nur schlecht redete. Warum sollte ich mir diese ganze negative Stimmung antun, wenn ich mit Leo irgendeinen albernen Film auf seinem Laptop sehen konnte?

,,Wollt ihr mich nicht verstehen oder versteht ihr mich tatsächlich nicht?", rief ich und blickte verzweifelt zwischen meinem Vater und meiner Mutter hin und her. Ich war nicht in Feierstimmung und ich fühlte mich verkleidet. Ich hatte keinen Bock darauf "Happy Family" und die perfekte Enkelin zu spielen, obwohl wir doch alle wussten, dass meine ältere Schwester diesen Titel bereits für sich beansprucht hatte. Nicht, dass ich darauf wert legte, aber es war eben anstrengend immer der Sündenbock zu sein und sich für alles mögliche rechtfertigen zu müssen. ,,Kind, du bist viel zu dürr, iss mal was!", "Hanni, du musst endlich mal mehr für die Schule tun, deine Noten sind ja grausig", "Ach Gott Hannah, was hast du denn da an? Das sieht ja aus wie aus der Altkleidersammlung"

Anscheinend war der Trend der Used Jeans an meiner Oma vorbei gegangen, was ich ihr gerade noch so eben verzeihen konnte, aber sie fand eben immer irgendeinen Makel an mir.

,,Hannah, deine Oma hat Geburtstag! Du kannst doch morgen wieder zu Leo. Dich einen Tag nicht zu sehen wird ihn schon nicht umbringen", wow. Das hatte gesessen. Ich schluckte und blickte meine Mutter ungläubig an. Hatte sie das gerade tatsächlich gesagt? Wie wenig Feingefühl konnte ein Mensch eigentlich besitzen? Fand sie diesen geschmacklosen Witz auch noch lustig? Ich schüttelte bloß den Kopf und fuhr mir durch die blonden Haare. Sie hatten gewonnen, ich hatte nicht genug Kraft auch noch gegen die Beiden anzukämpfen, auch wenn das hieß Leo zu enttäuschen. Ich hatte ihn zwar vorgewarnt, aber immernoch gehofft, dass sich meine Eltern irgendwie besänftigen ließen.

Tja, falsch gedacht und so saß ich fünf Minuten später in dem Renault meiner Familie, mit einem Strauß Blumen in der Hand, den ausgerechnet ICH meiner Oma überreichen sollte. Ich fühlte mich wie ein Kleinkind und nicht wie eine 17-jährige, die bald volljährig wurde. Es war nicht so, dass ich mich mit meinen Eltern nicht gut verstand, aber manchmal glaubte ich, dass sie keine Ahnung hatten, wie wichtig mir diese Beziehung war. Das alles wirkte so, als hielten sie uns für zwei Kindergartenkinder, die ab und zu mal kichernd Händchen hielten, und das obwohl wir jetzt schon seit über einem Jahr zusammen waren. Ob sie dachten, dass sei nur eine Phase? Oder das es eine Beziehung war, die ich aus Mitleid führte? So war es ganz und gar nicht. Bei uns hatte es einfach Klick gemacht. Es passte und ich wollte und musste mich vor niemandem dafür rechtfertigen.

,,Hannaaaah, oh du siehst aber schlecht aus, Mäuschen", kaum wurde ich begrüßt, wollte ich rückwärts wieder aus dem Restaurant laufen. Nicht nur, dass es hier wahnsinnig laut war, auch die vielen Menschen an den ganzen Tischen machten mich wahnsinnig. Das hier hatte nichts von Gemütlichkeit. Das laute Rauschen der vielen Stimmen und die prüfenden Blicke der Familie war nicht das, was ich mir unter einem schönen Nachmittag vorstellte... und es war keine Umgebung, in der ich mich auch nur ein Bisschen wohlfühlen konnte.

I will be your safety [Club der roten Bänder inspiriert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt