Kapitel 2

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Mit einem grellen "Pling" sprangen die Türen des Aufzugs auf und ich trat hinaus auf den kargen Flur. Augenblicklich schlug mir der Geruch von Desinfektionsmittel entgegen. Krankenschwestern und Ärzte huschten über die Flure, hier und da hörte man ein Kind weinen und um die Ecke diskutierten zwei Elternteile miteinander über irgendeine Behandlung, die ihr Kind vielleicht bekommen sollte.

Es war der traurige Alltag auf der Kinder- und Jugendstation, an den ich mich fast schon gewöhnt hatte. Nicht nur, weil ich Leo quasi täglich besuchte... auch, weil ich hier vor über einem Jahr noch gearbeitet hatte. Ich hatte schon immer etwas für Kinder übrig gehabt und weil ich es langweilig gefunden hatte, einfach ein Praktikum im Kindergarten zu machen, hatte ich mich für das Krankenhaus entschieden. Ich hatte den Kindern vorgelesen, mit ihnen gespielt oder gebastelt. Es war für mich immer die schönste Bezahlung gewesen, die Kinder für einen Moment glücklich und vollkommen sorglos zu sehen. Natürlich war es nicht immer einfach gewesen. Ich hatte Kinder erlebt, die sich vor Schmerzen in ihrem Bett krümmten und manchmal waren Kinder am nächsten Tag einfach nicht mehr da, weil sie die Nacht nicht überlebt hatten.

Vielleicht fragte man sich, wie man mit solchen Dingen umging, aber ich hatte mir immer gesagt, dass ich ihnen die schwere Zeit im Krankenhaus vielleicht ein bisschen angenehmer gemacht hatte. Zumindest hoffte ich das...

Durch diesen kleinen Nebenjob hatte ich auch Leo kennengelernt. An einem Tag hatte ich Spenden aus der Schule mitgebracht und war so bepackt gewesen, dass ich Mühe hatte zu sehen, wo ich langlief... Und da ich Tollpatsch kein Fettnäpfchen ausließ, hatte ich ihn natürlich voll umgerannt. Naja, ich war in seinem Rollstuhl hängen geblieben und hatte die Spenden quer über den Krankenhausboden verteilt. Anstatt sauer zu sein hatte er sich kaputt gelacht und ich hätte ihn am liebsten erwürgt. Naja, zumindest für einen Moment, denn kurzerhand bot er mir seine Hilfe an und wir brachten Kuscheltiere, Bücher und Co. zusammen in den Gemeinschaftsraum. Wir waren sofort ins Gespräch gekommen und es hatte einfach gepasst.
Lustigerweise war das erste, was mir an ihm aufgefallen war nicht mal der Rollstuhl oder die raspelkurzen Haare gewesen, die er zu der Zeit gehabt hatte, sondern sein Lachen... das ansteckende, herzhafte Lachen.

Ich lief den Gang hinunter, bis ich an Leos Zimmer angekommen war. Die Tür stand offen und er saß auf seinem Bett. Er hielt einen Stift in der Hand, auf welchem er konzentriert herumkaute, während seine Augen auf ein Buch und ein Blatt Papier auf seinem Tisch gerichtet waren.
,,Leo..."
,,Heey...", er blickte überrascht auf, nahm die Kopfhörer herunter und schmiss diese auf den Tisch zu seinen Unterlagen.
,,Was machst du denn hier? In deiner SMS stand doch... also ich dachte du-"
,,Dachte ich auch", murmelte ich leise und blickte auf meine Finger, die ich unsicher knetete. Inzwischen war mir die Sache im Restaurant ziemlich peinlich, wahrscheinlich war ich gerade das Gesprächsthema Nummer 1 und ich wollte nicht wissen, was mich zu Hause erwarten würde. Gott sei Dank war meine Schwester vor ein paar Monaten ausgezogen, so dass ich mir zumindest ihre Vorwürfe nicht anhören musste.

,,Komm her...", er klopfte neben sich und schob den Tisch zur Seite, so dass ich mich zu ihm setzen konnte. Sofort streifte ich mir die hohen Schuhe von den Füßen und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Genau hier gehörte ich hin... Ich wurde augenblicklich ruhiger, die Wut verflog, aber was blieb war die traurige Tatsache, dass einige Familienmitglieder mich wohl nie verstehen würden.
,,Willst du mir erzählen, was passiert ist?", fragte er mit vorsichtiger Stimme und strich mir die blonden Haare aus dem Gesicht.
Ich schnaufte, während ich an die weiße Krankenhauswand blickte: ,,Na meine bescheuerte Familie ist passiert", ich war mir nicht sicher, ob ich ihm alle Details erzählen sollte, aus Angst, dass ihn bestimmte Kommentare verletzen würden. Zwar hatte man bei Leo meistens das Gefühl, dass er wahnsinnig gut mit allem klar kam und er ein verdammt dickes Fell hatte, aber insgeheim sah es manchmal anders aus, das wusste ich inzwischen. Genau genommen konnte ich ihm sogar ansehen, wenn er versuchte für andere stark zu sein und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Dies waren wohl so die einzigen Momente, in denen er nicht komplett ehrlich war.
,,Das übliche eben. Meine Oma und meine Schwester haben immer irgendwas zu meckern, anstatt bei sich selbst anzufangen und irgendwie habe ich das heute nicht ertragen, nach der Diskussion mit meinen Eltern. Sie verstehen einfach nicht, dass mir dieser Geburtstag scheiß egal ist und das ich meine Zeit lieber mit dir verbringen will", erklärte ich und sah zu ihm auf. Er wirkte nachdenklich, zuckte leicht mit den Schultern.

,,Naja, es ist immerhin deine Oma. Aus der Perspektive deiner Eltern kann ich das schon verstehen. Weißt du... irgendwann ist sie vielleicht nicht mehr da und dann bereut man es, wenn man solche Tage nicht mit dieser Person verbracht hat", sagte er leise und strich mir über den Arm, doch ich schnaufte nur wieder. Bei meiner Oma würde es mir ganz sicher nicht so gehen. Okay, ich würde wohl auch keinen Freudentanz aufführen, wenn sie starb, aber ich bezweifelte, dass ich es bereuen würde, wenig Zeit mit ihr verbracht zu haben. Denn die Zeit, die ich mit ihr verbrachte, war für mich die reinste Geduldsprobe.
,,Abgesehen davon wäre es wirklich kein Problem gewesen, wenn du nicht gekommen wärst. Wie du siehst habe ich mich vorbildlich verhalten und versucht ein wenig zu lernen, wobei du mich im übrigen gestört hast. Aber hey, eigentlich ist bei mir eh schon alles verloren!", ich hörte ihn lachen und boxte ihm freundschaftlich in den Bauch.
,,Laber nicht so einen Mist, wenn du dich mal ein bisschen anstrengen würdest, würdest du die Prüfung auf jeden Fall bestehen"

,,Wenn du mich nicht immer vom Lernen abhalten würdest. Das ist deine Schuld, ganz klar!", neckte er mich, doch ich streckte ihm bloß die Zunge raus. ,,Netter Versuch dich da rauszureden, mein Lieber", ich tippte mir an die Stirn, setzte mich dann auf und machte große Augen, weil mir etwas einfiel.
,,Hey, übrigens... "Ken" war auch mit beim Essen und er sah mal wieder aus wie das Männermodel schlechthin. Oder auch wie eine Wachsfigur, wie man das jetzt auch nennen möchte. Der Typ sagt ja nicht ein Wort, ich glaube er steht voll unter dem Pantoffel meiner Schwester", lachte ich und schüttelte amüsiert den Kopf bei dem Gedanken an die Zwei. Ich hatte Leo hier und da Bilder von dem Freund meiner Schwester gezeigt und wir hatten herzhaft über ihn gelacht. Immer wenn ich dem Typen begegnete, konnte ich Leo eine neue Geschichte erzählen, über die wir uns jedesmal prächtig amüsierten.
,,Du müsstest ihn echt mal treffen, ich glaube das wäre so ziemlich das Lustigste, was passieren könnte. Ihr Zwei an einem Tisch. Er könnte dir nicht das Wasser reichen. Oh man, ich hätte dich echt gerne dabei gehabt...", beendete ich meinen kleinen Monolog und das breite Grinsen aus meinem Gesicht verschwand langsam.
Manchmal war es schon schwer zu akzeptieren, dass wir eben nicht all das tun konnten, was wir wollten. Die normalsten Dinge waren nicht möglich. Ins Kino gehen, shoppen... Natürlich war ich dankbar für jede Sekunde, die ich mit ihm hatte und wir langweilten uns auch hier nicht miteinander, aber allein Leo zur Liebe hätte ich mir hin und wieder ein wenig Normalität gewünscht. Er war schon so lange hier drin und ich war mir sicher, dass ihm so etwas simples wie ein Kinobesuch wahnsinnig gut getan hätte.

,,Sicher? Ich wette bei dem Anblick von mir Krüppel wäre einigen das feine Essen im Hals stecken geblieben", lachte Leo und deutete auf seinen Stumpf. Als ich ihn kennengelernt hatte, hatten sie ihm aufgrund des Krebses kurz zuvor das linke Bein abgenommen... Lediglich der Oberschenkel war ihm geblieben und ich war von Anfang an begeistert davon gewesen, wie gut er damit zurecht kam. Auch für mich hatte es nie ein Problem dargestellt, dass er nur ein Bein hatte. So war er eben. Ob mit zwei Beinen oder nur mit einem... das war mir total egal. ,,Wäre doch lustig gewesen. Vielleicht wären ein paar daran erstickt und ich hätte somit einige Probleme weniger", witzelte ich und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

,,Okay, genug schwarzer Humor für heute! Also, auf was hast du Lust? Eine Runde Uno? Diesmal ziehe ich dich ab! Oooder sollen wir lieber Walking Dead weitergucken?"
,,Naja, um ehrlich zu sein...", er kratzte sich am Kopf und blickte mich entschuldigend an. ,,... bin ich schon mit jemandem verabredet. Ich wollte mit einem Kumpel von hier in den Pyhsioraum und ich würde das echt nur ungern absagen. Ich dachte ja du würdest heute nicht herkommen, also..."
,,Oh!", machte ich, bemühte mich aber schnell wieder um ein Lächeln und winkte ab. ,,Nein, ist schon okay, geh ruhig. Ein fitter Freund ist schließlich auch für mich von Vorteil!"
Das hieß dann wohl, dass ich früher nach Hause zu meinen Eltern musste, als mir lieb war... und es zeigte, dass ich ihn vielleicht manchmal mehr brauchte, als er mich.

I will be your safety [Club der roten Bänder inspiriert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt