Kater Murr schreibt an sein zukünftiges Ich

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Filmtipp: Memento (Regie: Christopher Nolan)

Worum geht es? Der Protagonist leidet an anterograder Amnesie, das heißt, anders als bei der sogenannten "Hollywood-Amnesie", bei der man sich nicht an Ereignisse vor einem bestimmten Zeitpunkt erinnert, kann er keine neuen Erinnerungen bilden. Nach wenigen Minuten weiß er nicht mal mehr, warum er sich an einem bestimmten Ort befindet. Der einzige, dem er trauen kann, ist er selbst – Notizen und Polaroidfotos ersetzen sein Langzeitgedächtnis.

Was lernt die Feder? Nolan bedient sich eines genialen Tricks, um uns die Hilflosigkeit des Protagonisten vor Augen zu führen: Der Film erzählt die Handlung (teilweise) rückwärts. Mit jedem neuen "Häppchen" fühlen wir uns genauso verloren und verwirrt wie die Hauptfigur, und erst das Ende der Szene knüpft an die vorherige an, und wir verstehen langsam die Zusammenhänge.

Damit wären wir beim Thema des heutigen Abends: Die Form sollte dem Inhalt folgen, und nicht umgekehrt. Eine Geschichte einfach nur rückwärts zu erzählen, weil es dann möglichst postmodern wirkt, wäre albern. Auf gar keinen Fall sollte man den Stoff so sehr biegen, dass er in ein enges Formkorsett passt. Beispiel: Ein Wechsel des Point of View nach jedem Kapitel, sehr beliebt auf Wattpad*, verführt leicht dazu, jedem Charakter abwechselnd möglichst gleich viel Gewicht beizumessen, damit er während seiner "Ich-Zeit" nicht nur teilnahmsloser Zuschauer ist. Hier würde man kaum eine Figur für längere Zeit in ein Gefängnis sperren – ansonsten bestünde ihr Kapitel nur aus dem Zählen der Fugen in der Wand!

Grundelemente und Fallstricke. Vielleicht sagst du jetzt: Hey, ich will ja kein Lesedrama oder ein Sonett schreiben, also muss ich mir um die Form keine großen Gedanken machen. Dabei hast du sicherlich schon (bewusst oder unbewusst) Entscheidungen dazu getroffen! Ich-Erzähler oder 3. Person? Sachlich oder nah an den Charakteren? Fokus nur auf eine Person oder Wechsel der Perspektive? Wo hört das Kapitel auf? All das sind Punkte, die an der eigentlichen Geschichte nicht viel verändern, aber großen Einfluss auf die Art haben, wie sie gelesen wird.

Ein Ich-Erzähler kann zum Beispiel helfen, wesentliche Informationen über den Protagonisten zurückzuhalten; ein Erzähler in der 3. Person erlaubt es dagegen, in die Köpfe der anderen Figuren hineinzuschauen.

Natürlich heißt das nicht, dass man keine kreativen Formen ausprobieren darf, aber wenn, dann sollte sich der Inhalt auch wirklich darin wohlfühlen! Stell dir nur mal vor, was für ein Krampf Harry Potter oder Die Tribute von Panem als Briefroman wäre...

Nachgeschlagen. Das Verhältnis von "Form" zu "Stoff" (Inhalt) hat sich im Laufe der Jahrhunderte stark gewandelt. Im Mittelalter und Barock stand die Form im Vordergrund. Romane folgten einer strikten Abfolge, und man war nicht gespannt, wie es weitergeht (ein Leser des Barock würde Spoilerwarnungen getrost ignorieren). In jüngerer Zeit, in Deutschland insbesondere durch Lessing und Schiller, wurde dem Inhalt mehr und mehr Bedeutung beigemessen. Nach und nach "befreiten" sich die Autoren aus den starren Formen, was stellenweise auf Unverständnis stieß.

Die Romantiker trieben das ganze auf die Spitze und spielten munter mit den Formen. Zum Beispiel ist Tiecks Gestiefelter Kater ein Stück, das von der Aufführung eines Stückes handelt. In der so genannten Postmoderne schien schließlich die Experimentierfreude alle Konventionen zu sprengen, und die eigentliche Geschichte rückte in den Hintergrund. James Joyce' Ulysses etwa hat nicht nur den Bewusstseinsstrom populär gemacht, sondern enthält auch ein Kapitel in Dramenform, und eines, das mit Überschriften wie aus Zeitungsartikeln durchsetzt ist.

Querverweise.

- Die Lebens-Ansichten des Kater Murr (E.T.A. Hoffmann) enthalten eine Biografie des Katers Murr, die er auf den Rücken der Buchseiten einer Biografie des Kapellmeisters Kreißler schmierte. Dadurch wechseln sich die beiden Texte ständig ab und stellen so einen deutlichen Kontrast dar.

- Der Text der Unendlichen Geschichte (Michael Ende) ist zweifarbig gedruckt, die zwei Handlungsorte repräsentierend, unsere Welt und Phantásien. Die optische Trennung erlaubt es, schnell zwischen beiden Orten hin- und herzuspringen, ohne Verwirrung zu stiften.

- Ein Beispiel, wie man es vielleicht besser nicht macht: Der von mir sehr geschätzte Arno Schmidt hat sich viele Gedanken über die "richtige" Form gemacht, und geniale, teilweise aber auch sehr banale Geschichten erzählt (seine Stärke ist mehr die Sprache selbst). Sein Magnum Opus, Zettel's Traum, ist ein Mammutwerk bestehend aus 1334 DIN-A3-Seiten (!) in dreispaltigem Layout (weil: anders wäre ja falsch!), und das alles für eine harmlose Liebesgeschichte und ein paar Angebereien über die eigene Belesenheit. Es ist bezeichnend, dass kaum jemand das Werk wirklich gelesen hat, es aber schon am ersten Verkaufstag wegging wie warme Semmeln – als Wertanlage.

Weiterführende Literatur:

- Bücher-Wiki: Form. http://www.buecher-wiki.de/index.php/BuecherWiki/Form

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* warum eigentlich? Hat das ein Bestseller so gemacht? Sachdienliche Hinweise bitte in die Kommentare, hatte das noch nie zuvor gesehen. Ich weiß, dass Das Lied von Eis und Feuer POV switching hat, aber nur in der dritten Person, nicht in der ersten.

Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Textes hatte ich fälschlicherweise behauptet, Lessing würde zur (Weimarer) Klassik zählen.

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