Walter White kocht Weihnachtsgeister

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Serientipp: Breaking Bad (Idee: Vince Gilligan).

Worum geht es? Der an Krebs erkrankte Chemielehrer Walter White steigt ins Drogengeschäft ein, um seiner Familie nach seinem Tod ein auskömmliches Vermögen zu hinterlassen.

Was lernt die Feder? Die charakterliche Veränderung der Hauptfigur zeigen. Im Laufe der Serie entwickelt sich Walter White vom harmlosen Familienvater zum eiskalten Drogenboss. Es ist die uralte Geschichte von der Versuchung des Bösen, weswegen ich die Serie auch gerne "Macbeth mit Meth" nenne, zu dem es einige Parallelen gibt (vgl. Chandler A. 2014?).

Grundelemente und Fallstricke. Menschen sind Gewohnheitstiere. Hast du dir schon mal geschworen, eine deiner Verhaltensweisen zu ändern, und dann gemerkt, dass du nicht über deinen eigenen Schatten springen kannst? Wenn dir das schon so schwer fällt, wie sollen sich dann erst deine Figuren wandeln?

Figuren brauchen eine starke Motivation, um sich zu ändern. Einschneidende Erlebnisse können beispielsweise der Verlust geliebter Menschen (die Ermordung von Bruce Waynes Eltern in Batman), die Erschütterung der Weltanschauung der Figur (vom Himmel fallender Scheinwerfer in Die Truman Show) oder eine lebensbedrohliche Situation sein. Im Falle von Breaking Bad muss Walter White mehrmals moralische Entscheidungen treffen und abwägen, ob ein Dritter Schaden nimmt, oder er sich den Behörden stellt.

Das bedeutet aber nicht, dass deine Figur aufgrund eines einzigen Ereignisses ihr Wesen wie ein umgelegter Schalter wechseln sollte. Eine solche Veränderung findet z.B. in The Dark Knight statt, wo ein rechtschaffener Charakter mit nur wenigen Sätzen überzeugt werden kann, die Seiten zu wechseln. Diese plötzlichen Sinneswechsel wirken unnatürlich und lassen deine Charaktere hinterher blasser erscheinen als vorher. Veränderungen erfolgen graduell.

Dein Hauptverbündeter ist der Platz, der dir zur Verfügung steht. Je größer dein Werk ist, desto kleiner kannst du die Veränderung des Charakters darstellen. Breaking Bad hat mit seinen fünf Staffeln mehr als genug Zeit. Aber auch wenn dir "nur" die Größe eines Romans bleibt, sollte es mehrere Stationen geben, an denen die Veränderung deiner Figur sichtbar wird. Ganz der Regel "Show, don't tell" folgend (dazu ein andernmal mehr), müssen ihre Taten dem Leser zu erkennen geben, dass sich das Verhalten allmählich ändert.

Charaktere fallen nicht vom Himmel. Sie werden nicht auf der Seite geboren, auf der sie zum ersten Mal auftauchen. Um ihre Wandlung darzustellen, kann es notwendig sein, ihr aktuelles Wesen mittels einer Hintergrundgeschichte zu erläutern. In Breaking Bad  erfahren wir, dass Walter White gemeinsam mit einem Freund eine Firma gegründet hatte, seinen Anteil aber für einen geringen Betrag abstieß. Als er vom Erfolg des Unternehmens erfuhr, der auf seiner Forschung begründet wurde, fühlte er sich hintergangen. Diese Episode spielt eine wichtige Rolle in Walters Wandel, da er nicht mehr (in seinen Augen) hereingelegt werden will.

Schlussendlich musst du dich noch fragen, ob die Veränderung eine wirkliche Veränderung sein soll – oder ob sie lediglich eine Eigenschaft zum Vorschein bringt, die schon immer in deinem Charakter schlummerte.

Nachgeschlagen. In Truby (2008) führt der Autor die Veränderung eines Charakters auf eine einfache Formel zurück: W x A = C. Der Held oder die Heldin startet mit Schwächen ("weaknesses", W) und wird durch die Handlungen ("actions", A) zu einem anderen Mensch ("changed person", C). Im Fall von Breaking Bad ist Walter White zu Beginn unentschlossen, willensschwach und naiv (W). In die gefährliche Realität des Methgeschäfts geworfen und vor eine Reihe moralischer Entscheidungen gestellt (A), wird er machthungrig, skrupellos und zielstrebig (C).

Wichtig sind hierbei die Schwächen des Hauptcharakters, die dem Leser so früh wie möglich vor Augen geführt werden müssen. Gewinnt die Figur lediglich neue Eigenschaften hinzu, kann man nicht wirklich von einer Veränderung sprechen. Nehmen wir als Beispiel eine generische Fantasystory:

A: Die Heldin befreit zusammen mit ihren Gefährten ein Reich von einem bösen Tyrannen wird Königin.
C: kampfesstark, barmherzig, freundlich

Es wäre ziemlich langweilig, wenn unserer Heldin zu Beginn der Geschichte bloß die Eigenschaften in C fehlen. Erst die Schwächen machen die Verwandlung erlebbar. Ist sie z.B.

W: tollpatschig, launisch, Solistin

können wir sie in einer augenscheinlich aussichtslosen Situation erkennen lassen, wie wertvoll die Freundschaft ihrer Gefährten ist; sie jemanden durch ihre Laune in ernste Gefahr bringen lassen, etwa, weil sie in ihrer Wut die Nachtwache am Lager verlässt; oder sie in einer klassischen Trainingsmontage zeigen, wie sie zu Beginn mit ihrem Bogen nur den Wasserschlauch trifft und nicht das Ziel, und zum Ende eine Meisterschützin wird.

Übrigens setzt Truby für jede gute Geschichte voraus, dass der Hauptcharakter eine Verwandlung durchmacht – und wenn nicht, dann müssen die Gründe dafür auch präsentiert werden. Ich stimme mit dem nicht ganz überein; auch Plots ohne Charakterveränderung können sehr unterhaltsam und bewegend sein. In Life is Strange macht die Protagonistin Max Caulfield keine Wandlung per se durch, dennoch durchlebt sie in dieser Coming-of-Age-Geschichte ein Wechselbad der Gefühle – und der Spieler gleich mit. [1]

Querverweise.

- In Charles Dickens' Eine Weihnachtsgeschichte wird der geizige Menschenfeind Ebenezer Scrooge von vier Geistern heimgesucht, die ihm die Konsequenzen seiner Taten und das Elend seiner Mitmenschen zeigen. Zutiefst gerührt geht Scrooge geläutert aus dieser Nacht hervor.

- Der zynische Wettermann Phil Connors muss in Und täglich grüßt das Murmeltier (R: Harold Ramis) ein und denselben Tag wieder und wieder erleben; auch sein Herz wärmt langsam auf. Diese Geschichte spielt übrigens ebenso im Winter; nichts unterstreicht wohl eine kalte Persönlichkeit so gut wie kaltes Wetter.

- Eine Verwandlung im Kleinen macht Hermine Granger in Rowlings Harry-Potter-Romanen durch. Zu Beginn hält sie sich streng an die Regeln, die ihr die Schule bzw. die Lehrer auferlegen. Mit der Zeit erkennt sie, dass nicht alle Vorschriften moralisch gerechtfertigt sind und beginnt sie zu brechen.

Weiterführende Literatur:

- John Truby (2008): The Anatomy of Story: 22 Steps to Becoming a Master Storyteller. Farrar, Straus and Giroux (eBook-Ausgabe). 

- Chandler A. (2014?): Breaking Bad vs. Macbeth. https://studyingbreakingbadcourse.wordpress.com/course-items/papers-projects/compare-and-contrast-essays-on-breaking-bad-and-macbeth-coming-soon/breaking-bad-vs-macbeth-by-chandler-a/

[1] Achtung: Spielt Life is Strange nicht, wenn ihr unter Depressionen leidet. Ich spreche normalerweise keine Triggerwarnungen aus, aber die ist wirklich ernst. Allen anderen empfehle ich es eindrücklich, es ist ein einzigartiges Erlebnis.

Die Feder liest mitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt