Kapitel 1

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7 Tage, 168 Stunden später, eine Woche nach unserem Familientreffen saß ich wieder auf der Hollywood Schaukel unter dem trüben Sternenhimmel, nur ohne  meine Tante. Dachte an keine Worte von ihr, starrte mit leeren Augen in den Himmel und fragte mich, wieso. Wieso sie es tat. Fragte mich zum ersten Mal, was ihre Art auf sich hatte. Ob mehr dahinter steckte, als ihr Charakter. Ob sie mit ihrer kalten Art etwas ausdrücken wollte oder ob sie einfach nur ein unbedeutsamer Teil von ihr war. Noch nie zu vor fragte ich es mich. Für mich war sie einfach immer meine Tante. Meine mysteriöse Tante. Ich akzeptierte sie so wie sie war, für mich war ihre Kalte Art selbstverständlich nach all den Jahren, sie war ein Teil von ihr, beschrieb sie, wenn sie nicht redete. Ich reimte mir immer Gründe zusammen, wieso sie so war, doch fragte ich mich zu vor nie, wieso sie so war.  Was steckte hinter ihrer Art, wieso war sie so kalt, wieso redete sie so abweisend aber doch direkt, wieso erschien sie einmal im Jahr und dass immer am selben Tag, mit den selben Klamotten, mit der gleichen Vorgehensweise wie jedes Mal. Welches Geheimnis steckte in ihr, was verleitete sie dazu, so zu sein. Ich würde es nie erfahren, könnte ihr nie all diesen Fragen stellen, sie würden unbeantwortet bleiben, mein Leben lang und drüber hinaus, denn sie ist Tod. Began Selbstmord drei Stunden nach unserem Gespräch, legte sich mit dem Rücken auf das eiskalte Wasser des Flusses und ließ sich treiben. Stunden lang. Ihr Körper verlor all seine Wärme, ihre Organe bauten ab und irgendwann gab ihr Herz sein letzten Schlag von sich. All meine verwirrten Gedanken über ihren Satz verschwanden mit der Nachricht, die mein Vater uns am nächsten Nachmittag überreichte, und in mir herrschte nur noch Leere, Stille. Stille, die nur von ihren letzten Worten oftmals unterbrochen wurde und immer mehr Fragen auf häufte.

Tränen flossen meine Wangen entlang, tropften in regelmäßigen Abständen auf meine Knie die angezogen an meinem Körper standen. Plop....Plop...Plop. Immer mehr flossen doch Kein Schluchzer verließ meine Kehle, kein anständiger Ton kam über meine Stimmbänder. Leises Gekrächze brachten sie nur heraus. Mein Kopf pochte, meine Augen waren angeschwollen und Blut unterlaufen. Eine leichte Gänsehaut zierte meine nackten Arme, ließ mich frieren, doch ich nahm es gar nicht war. Interessierte mich nicht, ob ich am nächsten Tag mit Fieber und Halsschmerzen aufwachen würde. Alles was mich nur noch interessierte waren ihre letzten Worte:

<< Du musst dich selber bekämpfen,

um zu siegen>>

In endlosschleife schwirrte ihre leise, zärtliche stimme in meinen Ohren und wurde erst durch die Aufforderung zum Essen zu kommen unterbrochen. Mit schwachen Beinen und pochendem Kopf stand ich auf und lief ins Innere, vorbei an meinem großen Bruder. Mike war ein circa 1.90m Mann, mit kräftigen Haar und außer ordentlicher sportlicher Statur, die er von meinem Vater geerbt hatte. Mit seinen gerade mal 19 Jahren kam er in der Fußballwelt schon sehr weit, war das Wunschkind aller Väter. Mein Vater prahlte nur so vor stolz bei jedem Sponser, jedem anderen Vater, Arbeitskollegen oder sonst wem. Einmal hatte er sogar einen 10 Minütigen Monolog im Restaurant geführt vor allen Gästen. Mein Bruder saß aber nur fast schon gelangweilt dort und aß sein Hüftsteak. Er war es gewohnt von unserem Vater so Reden zu hören, während ich mir wünschte mal über mich eine zu hören. Die Mädchen standen Kilometer weise Schlange bei ihm, doch ihn interessierte es nicht. Er wollte nie etwas festes, hatte nur ab und zu ein One Night Stand mit einer seiner millionen Fans, welche aus mindestens 90 Prozent des gegensätzlichen Geschlechtes bestanden.

Mein Beine liefen wie Selbstgesteuert in die Küche, ein Schauer lief mir über den Rücken als ich mit meinen nackten Füßen über die weißen, kalten Fließen lief. Vorsichtig zog ich den Stuhl zurück und ließ mich neben meiner 2 Jahren älteren Schwester nieder.

Sarah, 16 Jahren und das It-Girl an unserer Schule. Alle kannten sie, alle bewunderten sie. Alle Mädchen wollten sie als beste Freundin, alle Jungs wollten sie 'meins' nennen, doch dass wunderte mich nicht. Mit ihren Haselnuss braunen Haaren, die in natürlichen Locken über ihre Schulter fallen und den Smaragd grünen Augen war sie einfach Bildhübsch, die Vorstellung einer perfekten Schwiegertochter. Mit 7 Jahren sprach sie die erste Modelagentur an, mitten auf der Straße.
Es war an meinem 6 Geburtstag. Wir liefen als Familie durch den Stadtpark, als dieses Frau auftauchte. Ihre Worte, ihre Stimme hallte bis heute noch in meinem Kopf. ,,Sie da, sie da'' rief sie mit ihrer viel zu hohen Stimme. Mein 6 jähriges Ich drehte sich um und sah sie komisch an. Gerade als ich fragen wollte, was sie will schupste sie mich auf die Seite, unsanft landete ich im Gras, während sie meine Schwester voll quatschte. ,,Sie sind perfekt, Bildhübsch'' strahlte sie meine Schwester an. Meine Schwester nickte nur verwirrt. ,,Sie haben ein wundervolle Tochter. Sie wäre das perfekte Model'' wendete sie sich diesmal an meine Eltern, die daraufhin stolz nickten. Drei Vier weitere Sätze und sie hatte meine Eltern und meine Schwester von sich überzeugt. Nach einem kurzen Telefonnummer austausch, verschwand sie wieder, stolzierte auf ihren viel zu hohen Schuhen davon. Ihre fast schon gelben Haare wehten im Wind, aber nicht so durcheinander, sondern perfekt. Wie bei einem Fotostudio. Von da an zählte nur noch das Modeln und meine Schwestern und mein Geburtstag war vergessen, ich war vergessen. Ihr Rum wuchs mit jedem neuen Model Auftrag den sie bekam. Jede Model Agentur wollte sie, ihr Gesicht und ihre Figur, jeder Fotograf wollte sie vor der Leinwand sehen und fotografieren.

Das Essen stand schon auf dem Tisch. Kartoffelpüree und Sauerkraut. Einzeln könnten sie nicht unterschiedlicher sein, doch zusammen ergeben sie eine herrliche Mischung, eine köstliche Mahlzeit. Meine Familie aß schon genüsslich alles, niemand nahm mich richtig war. Ich häufte mir ein klein bisschen des Essen aufs und beobachte das Geschehen, was sich mir bot, so wie meine Tante es immer tat. Meine Eltern redeten über einen wichtigen Termin, aßen dabei das Essen, lächelten sich an und hörten sich gegenseitig zu. Mein Bruder stopfte sich das Essen in großen Mengen in den Mund, verschluckte sich dabei öfters. Meine Schwester hingegen aß in angemessener Haltung. Gerader Rücken, Messer und Gabel in beiden Händen und die Servierte ordentlich auf dem Schoß liegend. Sie war in dieser Hinsicht das komplette Gegenteil von meinem Bruder. Er aß wie ein Schwein, sie wie eine Prinzessin. Er benahm sich wie ein Bauer, sie wie eine Königin. Mit anderen Worten, er benahm sich wie ein Fußballer und sie wie ein Model. Und ich, ja ich war ein anderer Fall.

Mit verschleierte Sicht führte ich meine Gabel zum Mund und der Geschmack von Kartoffelpüree zerfloss auf meiner Zunge. Meine Tante hatte mir mal erzählt, dass sie Kartoffelpüree nicht mochte, sogar verabscheute. Als ich sie fragte, wieso meinte sie nur:

<< Mia, es ist wie bei den Menschen.

Wir werden auch nie so akzeptiert wie wir sind, werden

dem entsprechen verändert, sodass wir wer neues sind.>>

Ich verstand ihre Worte damals nicht, ich war gerade mal 8, ging in die 3 Klasse und spielte noch mit Barbies. Ich weiß noch, dass es am nächsten Tag in der Schulmensa Kartoffelpüree gab und ihre Worte während ich aß in meinem Kopf hallte. Als ich meine damalige Betreuerin darauf ansprach und sie fragte, was meine Tante mir sagen wollte, meinte sie nur ich würde es eines Tages verstehen. Jetzt verstand ich sie. Verstand was sie mir sagen wollte. Kartoffelpüree hat den selben Effekt wie bei uns Menschen. Wir Menschen werden so verändert, dass wir wer neues sind. Wie ein Prozess zu der perfekten Tochter, Sohn, Freundin Freund etc. Der gleiche Prozess wird auf die Kartoffeln ausgeführt. Sind sie nicht perfekt, egal ob Form, aussehen, Struktur, werden sie zerstampft und zu einem neuen Gericht gemacht. Sie sind nicht mehr das was sie vorher waren, strahlen nicht mehr in ihrer eigentlichen Pracht.

Angewidert vom der Tatsache, was Kartoffelpüree in Wahrheit darstellte, schob ich meinen Teller von mir und spülte mit einem großen Schluck den Geschmack runter, welcher mir einen Würgreiz verschaffte.
Ich starrte mit ausdrucksloser Miene auf den Tisch, während das Lachen meiner Familien in meinen Ohren hallten, kläglich schmerzte. Ich konnte sie nicht lachen hören, wollte nicht sehen, wie sie einfach weiter leben konnten, als wäre nie etwas passiert. Als stände die Polizei nicht vor einer Woche vor unserer Tür und überbrachte uns die Nachricht. Tonlos weinte ich vor mich hin, lauschte der vertrauten Stimme meiner Tante in meinen Gedanken.

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