Kapitel 6

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Der vertraute Geruch meines Zuhause, in dem ich seit ich geboren bin lebte, stieg mir in die Nase als ich das Haus innere nach meiner Familie betrat. Mit der Kamera unterm Pulli schlüpfte ich aus meinen Schuhen, hängte die Jacke an die Garderobe und folgte meinen Geschwistern die Treppe hinauf zu unseren Zimmer. In die erste Tür lief mein Bruder, meine Schwester betrat das zweite und zu letzt lief ich in das Dritte. Die Tür fiel ins Schloss, verschloss mich in meinen vier Wänden, abgetrennt von allem, was im Haus passierte.

Die Kamera nahm ich nachdem ich mich auf der Fensterbank, mein zweit liebster Ort, niedergelassen hatte unter meinem Pulli heraus und betrachte sie eine Weile. In meinen Fingern fühlte sie sich leicht an, unwichtig, wie eine normale Videokamera. Doch wusste ich das mehr dahinter steckte, als harmlose Videos. Dass wenn man den Inhalt kannte sie sich schwerer anfühlen würden, erdrückender.

Ich drehte die Kamera in meinen Händen herum, betrachtete jede Seite und doch viel mir erst nach der dritten Durchsuchung etwas auf. Initialen. Die Initialen meiner Tante. In geschwungener, fast unlesbarer Schrift zierten sie die linke Seite, rechts unten. Für Menschen ohne Adleraugen unlesbar. Selbst für mich waren sie kaum erkennbar, aber spürbar.

Mit meinem Finger fuhr ich über Initialen, spürte das K und C deutlich unter meinem Finger. Geistesabwesend strich mein Finger über das Metall, meine Augen starr durch das Fester auf die Hollywood Schaukel, die den Rasen des Garten dekorierte. Dunkle, graue Wolken zierten jetzt den vorher klaren blauen Himmel. Ein Sturm rückte an.

Der für mich leblos anfühlende Raum wurde von einer Melodie gefüllt, einer unhörbaren Melodie für außenstehende, eine hörbare Melodie für mich. Das Ticken der Uhr im Rhythmischen Takt, mein Herz was die Pause zwischen dem Ticken schlug, das rascheln der Bäume im Wind, das zwischen drin Zwitschern der Vögel. Die Stimme meiner Tante begleitete die Melodie. Unzählige Sätze, Wörter sang sie in meinem Kopf, Sätze die ich bis jetzt vergessen hatte, unwichtig erschienen, nicht logisch für mich waren. Doch jetzt, nach vergangen Jahren verstand ich sie, jetzt nachdem meine Tante tot war, ich sie nie darauf ansprechen könnte, meine Meinung über den entsprechenden Satz geben könnte.

Tränen flossen langsam aus meinen Augen, hinterließen Spuren auf meinen Wangen. Unsicherheit ob ich das richtige tun würde wenn ich die Kamera öffnen würde plagte, sorgte dafür dass immer mehr Tränen flossen. Würde ich das richtige tun, wenn ich mir alle Video an sehen würde, war es überhaupt die richtige Entscheidung das erste Video zu sehen. Hatte meine Tante recht damit, dass ich ein Risiko eingehen würde, das ich später vielleicht bereuen würde. Würde mir es überhaupt helfen, zu wissen was meine Tante mir sagen wollte, oder würde es mich am Ende noch mehr zerstören, wenn ich die Wahrheit kennen würde.

Ich würde gerne sagen können, es ist die wichtigste Entscheidung meines Lebens vor der ich gerade stehe, doch weiß ich das nicht. Weiß nicht, was die Zukunft bringen wird, ob es vielleicht irgendwann eine viel wichtigerer Entscheidung geben würde, die ich treffen müsste, Vielleicht sogar zwischen Leben und Sterben. Im Leben gibt es keine unwichtigen, wichtigeren Entscheidungen. Jede Entscheidung ist gleich, in irgendeiner Hinsicht. Jede kann dein Leben ändern in gute oder schlechte. Jede kann das Leben eines anderen Menschen ändern, ins Negative oder positive. Du gehst bei jeder Entscheidung, die du trifft ein Risiko ein. Stellst dir jedes mal die Frage aufs neue ob du dich nicht doch anders entscheiden hätten solltest. Es gehört zu Leben sich falsch und richtig zu entscheiden. Du kannst es erst im nachhinein wissen und selbst dann weißt du nicht ob es besser wäre sich anders entschieden zu hätten.

<<Du musst riskieren, um

zu Leben>>

Ich verstand die Bedeutung hinter ihren Worten endlich. Vor 5 Jahren sagte sie sie mir, danach verschwand sie wieder, ohne dass ich fragen konnte was sie meinte. Ihr Satz war damals total unlogisch, ich vergaß ihn schnell wieder, doch jetzt wo ich mich wieder daran erinnerte, selber vor einer Entscheidung stand, Risiko ein zugehen oder nicht, waren sie gar nicht mehr so unlogisch für mich, wie für mein damals 9 jährige-Ich.

Benommen von der stimme meiner Tante drückte ich auf den <On> Knopf. Der Bildschirm erleuchtete und das Menü startete. 13 Videos beinhalteten die Kamera. 12 für mich noch bleibende sehenden Videos. Mit meinem Zeigefinger wählte ich das Video <<Machtwörter fielen, und ein Teil deines leben änderte sich>> aus. Der Bildschirm wurde für ein paar Sekunden schwarz, bis ein Fett gezeichnetes Datum den Bildschirm schmückte. 

Videodiary // #Wattys2016  #VorreiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt