Der Wind blies mir einzelne Strähnen ins Gesicht und meine Augen schmerzten vor Kälte, als ich sie öffnete. Kurz schimmerte das Bild vor meinen Augen, dann verschärften sich die Konturen und ein Paar Augen schoben sich in mein Blickfeld. Mein Körper zuckte automatisch zurück, doch er prallte nur gegen eine Wand. Schmerz breitete sich in meinem Rücken aus. Ich blinzelte, aber die Augen blieben. Sie verengten sich und buschige Augenbrauen kamen zum Vorschein.
,,Mädchen, bist du okay?"
Ich brachte einen Laut heraus, der an einen alten Rollstuh erinnerte, der knarrend gerade um die Ecke fuhr.
,,Do you speak another language? Are you sick?"
,,Zu viele Fragen auf einmal."
Ein lautes Lachen kam von dem Mann, dem plötzlich nicht nur Augenbrauen und Augen gehörten, sondern ein ganzer Körper.
,,Kannst du aufstehen?"
,,Ich glaube nicht... Mein Steiß."
Er ging in die Knie und hob mich hoch, als wöge ich nichts.
,,Deine Füße sind ja klitschnass. Kannst du sie spüren?"
,,Meine Füße - nein, nein! Warum spüre ich sie nicht, ich hatte doch Gummistiefel an!" Ich keuchte und versuchte mich so zu beugen, dass ich meine Füße sehen kann, aber mein Steiß verhinderte das.
,,Deine Stiefel haben ein Loch, aber keine Angst, du wirst sie bald wieder fühlen. Sie sind bloß taub."
Erleichtert atmete ich aus. ,,Mein Po ist ein einziger Eisklumpen."
,,Ich habe oben im Jägersitz eine Decke."
Ich schaute zu dem Holzhaus, das dunkel im Schatten lag. Ich drückte mich mehr an seine Brust, die nach Holz, Harz und - war das Blut? Ja, sie roch leicht nach Blut.
,,Kein frisches Blut", sagte er, als er meinen Blick bemerkte. Erleichtern tat mich das wenig.
,,Gehen Sie! Ich komme alleine klar!", befahl ich, aber es hörte sich ziemlich kläglich an.
,,Du kannst unmöglich alleine nach Hause. Du spürst deine Füße nicht, da du in einem Bach für längere Zeit gelegen hast - warum auch immer - und dein Steiß tut weh. Hm. Wo wohnst du?"
,,Sag' ich Ihnen nicht. Und lassen Sie mich runter!"
Er setzte mich vorsichtig ab, und mein Steiß meldete sich augenblicklich, doch ich würde alleine stehen und laufen können. Ich konnte mich Schmerz umgehen.
,,Was soll ich jetzt mit dir tun? Ich kann dich schlecht alleine im Wald lassen."
,,Ich kann jetzt nicht nach Hause."
,,Nun gut. Dann übernachtest du bei mir. Es wird aber ziemlich eng werden."Vielleicht war es eng, aber das störte nicht. Ich hatte den Fensterplatz eingenommen und entdeckte im Licht seiner Stehlampe einen Spreisel, der sich in meine Hand gebort hatte, als ich die Leiter zu dem Hochsitz empor gestiegen bin.
Meine Finger stellten sich als sehr steif heraus, weshalb mein Gastgeber meine Hand in seine nahm und ihn geschickt entfernte.
Er stellte sich als Michael vor. Jäger, Vater von drei Jungen und einem Mädchen, Ehefrau alkoholabhängig und derzeit in einer Klinik. Er wollte eigentlich diese Nacht schießen, doch er lächelte nur freundlich und winkte ab.
Wir sprachen anfangs ein wenig, aber irgendwann schlief ich ein. Den kalten Wind in meinen Haaren, das Gesicht auf dem kleinen Tisch, die Decke, die er mir gegeben hatte, um den zitternden Körper gewickelt. Stille erfüllte das Jägerhaus. Die Rehe würden eine ruhige Nacht haben. Auf dem Feld nach Nahrung suchen, aufmerksam die Gegend beobachten, doch vergebens. Keine Schüsse, kein auf Lauer liegender Jäger, nur das Rauschen in den Ohren.
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Der Hochsitz
Short StoryEs war ein kühler Morgen, ohne Freude und Licht. Nur Trübsinn und Schweigen. Am Rande eines Feldes stand ein Mädchen, das nach Leben suchte. Ihrem Leben. Und dann gab es da diesen Jägersitz im Schatten der Bäume. Es war der erste Morgen der Endlosi...