Der Morgen brach früh an. Früher als sonst in meinem Zimmer, meinem Rückziehort, welches zugleich eine monotone Stimmung von sich gab.
Die Jalousien waren an manchen Stellen kapput und Staub hatte sich auf ihnen nieder gesetzt. Ich war zu faul an heißen Sonmertagen ihn weg zumachen, da lag ich lieber im Bett und drückte meinen Kopf an die kalte Wand. Im Winter saß ich auf der Fensterbank und beobachtete den Staub, wie er bei einem meiner Atemzüge aufwirbelte. Atemzüge anderer Menschen gab es in meinem Zimmer kaum. Gelegentlich kam mein Bruder rein, doch meine Mutter hielt ihn immer weiter fern von mir. Sie selber hatte das Zimmer vor einem Jahr das letzte Mal betreten, als ich Geburtstag hatte. Sie stand plötzlich in meinem Zimmer und legte ein selbst gebackenes Crossaint auf den kleinen, wackeligen Tisch. Ich hatte so getan, als schliefe ich. Gespräche waren Seltenheit bei uns. Das Crossaint schätzte ich sehr, da sie nicht besonders gut backen konnte. Es war noch warm und die Butter zerging auf dem Teig. Ich liebte Crossaints, was eine teure Sache war. Im Sommer aß ich manchmal draußen auf der Bank Crossaint mit Erdbeeren, die ich im Vorgarten gepflückt hatte. In diesem Moment vermisste ich den Sommer und seine Leichtigkeit.
Frühling und Herbst verbrachtete ich meistens draußen auf den Feldern - bei jedem Wetter und jeder freien Minute. Dort sang ich leise ein paar Lieder, die früher mein Vater immer mit mir gesungen hatte, wenn wir durch die Wälder streunerten. Mein Vater, mein geliebter Vater. Damals war alles noch eine heile Welt. Meine Familie war mein ein und alles und jeden Sonntag gingen wir nach der Kirche die Wiesen entlang und ließen uns irgendwo nieder, um das Picknick einzunehmen, das Mutter in aller Frühe gemacht hat. Frische Eier, Brötchen vom Bäcker, feine Marmelade, Butter und Milch vom Bauernhof, Kirschen und Erdebeeren aus dem Garten. Den Kirschbaum gab es längst nicht mehr und somit steckte ich all meine Kraft in den Erdbeerstrauch.
Wie ich so über meine Grundschuljahre nachdachte, kam die Sehnsucht zurück. Kein wildfremder Jäger, sondern mein Vater hätte mir den Spreisel rausgezogen und nicht Michael hätte eine Decke mir gegeben, sondern meine Mutter. Sie konnte gut wollene, warme Decken stricken und ich hatte sogar zwei, mittlerweile viel zu kleine, in meine Kommode gelegt.
Eine Spinne krabbelte über die Brusttasche des Jägers und ich überlegte ihn zu wecken, ließ es aber. Er war Ungeziefer gewohnt, genau wie ich. Meine Vermutung bestätigte sich zehn Minuten später, als er aufwachte und mit zwei Finger unter seine Jacke fuhr, eine zappelnde Spinne herauszog und auf dem Fenstersims absetzte. Völlig unbeeindruckt, wandte er sich zu mir und lächelte.
Er holte aus seiner Tasche ein Brot, das er teilte und gab mir eine Hälfte. Ich biss in die harte Kruste und wünschte mir Erdbeermarmelade herbei. Seufzend aß ich alles außer auf den letzten Krümel auf, den ich den Insekten gnädig liegen ließ.
Michael war längst fertig und ich teilte ihm unfreiwillig meinen Ortsnamen mit, woraufhin er nickte und den Hochsitz, ohne ihn zum Ausspähen benutzt zu haben, mit mir verließ.Auf nach Hause.
Und so ging ich. Ohne große Hoffnung auf ein Geburtstagsgeschenk wie letztes Jahr.
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Der Hochsitz
Short StoryEs war ein kühler Morgen, ohne Freude und Licht. Nur Trübsinn und Schweigen. Am Rande eines Feldes stand ein Mädchen, das nach Leben suchte. Ihrem Leben. Und dann gab es da diesen Jägersitz im Schatten der Bäume. Es war der erste Morgen der Endlosi...