Sie ist es

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1. Sie ist es

So haben die Dinge dich groß gemacht,
und kannst du noch sagen wann?

Eine Nacht, eine Nacht, über eine Nacht, -
und sie sprachen mich anders an.
Ich trat in die Gasse hinaus und sieh:
die ist wie mit Saiten bespannt;
da wurde Marie Melodie, Melodie...
und tanzte von Rand zu Rand.
Die Leute schlichen so ängstlich hin,
wie hart an die Häuser gepflanzt, -
denn das darf doch nur eine Königin,
dass sie tanzt in den Gassen: tanzt!...

Rainer Maria Rilke: Der Wahnsinn

*

Die schummrige Beleuchtung tauchte die Bar in altmodisches Licht, was exzellent zum Gesamtkonzept des Molly Rouge passte. Indigo hatte nichts gegen den Retro-Chic ihres Arbeitsplatzes, auch wenn er nicht unbedingt ihrem persönlichen Geschmack entsprach. Abgewetztes Leder auf grellen Barhockern, verkratzte Metallschilder an den Wänden und über zweihundert abenteuerlich klingende Drinks auf laminierten Menükarten zogen ein derart gemischtes Publikum an, dass Indigo viel Spielraum hatte, was die Auswahl ihres Abendprogrammes anging. Während sie ans Mikrofon trat und ein paar Mal nachlässig dagegen tippte, ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Die üblichen Grüppchen von Studenten waren hier und da durchsetzt von einsamen Stammgästen, ein paar gegen ihr zunehmendes Alter ankämpfenden Ladies und dem einen oder anderen angespannt flirtenden Pärchen.

Indigo warf der müde wirkenden Band einen kurzen Blick zu, blies sich eine Haarsträhne aus den Augen und gab routiniert den Einsatz zu einem ihrer Lieblings-Songs von David Bowie. Gerade, als sie den Mund zu den ersten Worten formte, blieben ihre Augen an zwei Gestalten hängen, die in einer schwach beleuchteten Nische saßen und mit ausdruckslosen Mienen zu ihr hinauf sahen. Im Gegensatz zu den anderen Gästen unternahmen diese beiden keinen Versuch, sich über die flackernde Kerze hinweg zu unterhalten, die in einem leicht angelaufenen Glas zwischen ihnen stand. Etwas an ihnen lenkte Indigo so weit ab, dass sie beinahe ihren Einsatz verpatzte und als sie rasch ihren Blick abwandte, blieben Schatten der beiden auf ihrer Netzhaut zurück, als hätte sie in ein grelles Licht gesehen.

Keep your 'lectric eye on me babe ... Put your ray gun to my head –"

Als Indigo wieder hinsah, wandte die Frau gerade ein wenig den Kopf und murmelte einige Worte in Richtung ihres Begleiters, der knapp nickte und nach seinem Drink griff. Etwas an dem Bild, das die beiden boten, wirkte merkwürdig inszeniert. So, wie sie dort saßen – sie mit langen blonden Locken, Hollywood-roten Lippen und teurer gekleidet, als es im Molly üblich war, und er mit dunklen, fast schulterlangen Haaren und seltsam charismatischen Händen – hätten sie direkt einem glänzenden Modemagazin von der Sorte entspringen können, die man nicht an jeder Supermarktkasse kaufen konnte.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Indigo das Gefühl, dass es um sie ging, denn urplötzlich hob die Blonde den Blick und starrte sie direkt an.

Dann wandte Indigo sich mit einem leisen Schaudern ab und konzentrierte sich wieder auf die Musik, die sie innerhalb von Sekunden verschlang.

Mit dem fortschreitenden Abend veränderte sich das Publikum der Bar. Die Grüppchen plaudernder Mütter wurden nach und nach durch größere Cliquen von Studenten ersetzt, die Bedienungen kamen langsam ins Schwitzen und der Geräuschpegel stieg. Um Mitternacht beendete Indigo wie gewohnt ihre Live-Nummern, erntete gleichsam desinteressierten Applaus wie aufrichtiges Johlen, zog sich zurück und überließ dem DJ das Feld.

„Mann, wurde auch Zeit, ich schufte mich hier zu Tode! Du warst der Hammer, aber ganz ehrlich, wenn dieser alte Sack nicht bald noch ne Bedienung einstellt, dann hasse ich jede Sekunde, in der du singst und nicht hinter der Theke – hallo? Hörst du mir überhaupt zu?"

INDIGO EYES - Im Zeichen der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt