Damals war ich 14 Jahre jung, 54kg schwer und vom Leid gezeichnet. Ja, die Trauer und die Angst waren mir wahrlich ins Gesicht geschrieben. Mein Blick steht's zu Boden gesenkt, bei jedem Schritt aus der Tür Musik in den Ohren. Ich grüßte nicht, redete nicht, lächelte erst recht nicht. Nur in der Anwesenheit einer Person vergaß ich die Welt, doch sie wohnte hunderte Kilometer entfernt und konnte mich nur an manchen Wochenende von meinen schrecklichen Gefühlen befreien.
Ich sah scheußlich aus. Fast wie tot. Blass wie eine Leiche und ebenso kalt fühlte sich meine Haut an. Meine Augen waren geschwollen, dunkel und rotdurchlaufen. Meine Lippen vertrocknet, rissig, blutig gebissen und meine Mundwinkel stets nach unten gebogen. Ich habe mich oft bei dem Versuch zu Lächeln dabei erwischt, wie mir schlagartig die Tränen in den Augen brannten und nach 4 Jahren, legte ich die Maske ab. Hatte das Lügen satt und ließ das künstliche, müde Lächeln einfach sein.
Meine Haare, waren mittelbraun, durcheinander und liefen sanft an meinem Gesicht hinab. Sie waren trocken und etwas brüchig. Meine Kleidung war langweilig, eintönig, doch stets lang. Mein verkrustetes Handgelenk und meine ständig neu aufgekratzten Arme wurden unter langen Oberteilen oder Jacken versteckt. Meine Hände waren ebenfalls trocken und meine Finger wurstartig dick, die Fingernägel stets zurückgekaut und die komplette Nagelhaut aufgerissen, so dass überall kleine, getrocknete Bluttropfen auf der empfindlichen, geröteten, fast durchsichtigen Haut zu finden waren.
Kurz gefasst, ich sah wirklich erbärmlich aus.
Mit meinem Vater hatte ich keinen Kontakt mehr, nach jahrelangen Qualen floh ich letzten Sommer. Panikdurchtrieben und Tränenüberströmt alarmierte ich meine Mutter. Die zwei schrecklichsten Stunden meines Lebens begannen und unter Wutausbrüchen, Demütigung und Drohungen meines Vaters saß ich da, zerkratze mir meine Arme vor Angst und wartete hilflos auf meine Mutter. Mit zitternden Beinen, nach Luft ringend und mit blutenden Armen und Händen ließ er mich letztendlich gehen, nein er schubste mich beinahe auf die Straße und schmiss meinen vollen Koffer hassdurchtrieben und ohne Liebe auf den Boden.
Als ich meine Mutter sah brach ich voller Erschöpfung und Freude mitten auf der Straße zusammen. Nachbarn starrten aus dem Fenster, meine Großeltern standen stumm an der Tür und alle sahen einfach dabei zu, wie meine Mutter ihre schwache und aufgelöste Tochter ins Auto verfrachtete und die neue Frau meines Vaters auf sie einschrie und sie beleidigte.
An dem Tag sah ich meinen Vater zum letzten Mal.
Auch wenn ich aus seiner Macht und Kontrolle geflohen bin, fühlte ich mich immer noch beobachtet. Immer hatte ich Angst er könnte irgendwo sein, hörte Schritte hinter mir, dachte in jedem Auto, was an mir vorbeifuhr, es wäre seins, bis heute ist es so. Jeder Brief oder Termin beim Gericht, bei der Anwältin oder beim Jugendamt versetzte mich erneut in Panik, in Bedrängnis, in Unruhe. Ich wusste wie manipulativ mein Vater war und dass er jeden mit seinem Charme überzeugen konnte und bei manchen tat er es tatsächlich. Auf meine Gerichtshilfe und der Jugendamtsdame war kein Verlass mehr, nachdem sie ihn sahen und mit ihm sprachen. Ich weiß nicht, was er an sich hat, dass er jedes weibliche Wesen sofort von seiner Gestalt überzeugt. Dabei wird das kleine, depressive, psychisch kaputte Mädchen nicht mal mehr beachtet.
Ich konnte mich nicht frei fühlen, auch wenn wir die Gerichtsprozesse gewannen. Auch meine Therapeutin half mir bei meiner Depression, meinem Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen, sowie bei meiner ständigen Angst nur wenig. Nein, sie half mir gar nicht. Nur die eine Person tat es, doch ich sah sie nur selten und Telefonate waren eben doch nicht dasselbe. Ich war allein, von Albträumen geplagt und mit dem Gefühl dauerhaft unter der Macht meines Vaters zu stehen und wenn es nur anhand von Anwaltsbriefen war, selbst das ertrug ich nicht.
Ich wollte mich kontrollieren, mein Leben kontrollieren, die Macht über etwas haben und ganz alleine bestimmen. Und das tat ich. Ich begann weniger zu essen, ganze Kalorientabellen aus dem Internet zu schreiben, Thinspirations auf meinem Laptop zu speichern, mir Essenspläne zu schreiben, Sport zu treiben und mich jeden Tag zu wiegen. Morgens, mittags, abends. Alles wurde notiert.
Und es funktionierte, schneller als gedacht. Die Kilos flogen nur so davon wie kleine Schmetterlinge. Ich aß steht's nach meinem Plan, schließlich stand das Essen nun unter meiner Kontrolle, wenn ich Hunger hatte, hatte ich Pech, denn auch meine Bedürfnisse waren meiner Kontrolle untergeordnet.
Ich setzte mich so lange wie nie an meine Schulaufgaben und erledigte sie so ausführlich, wie es untypisch für mich war, doch es lenkte mich ab. Ich schaute Videos und Berichte, Texte und Dokumentationen über Magersucht im Internet. Ich zählte mich nicht zu ihnen, denn ich war nicht krank, wollte mich lediglich kontrollieren. Ich schaue mir all das an, um besser zu sein als sie. Ich wollte mehr Erfolge als die Krankheit bei ihnen erreichte. Dazu trieb ich Sport, jeden Tag. Sit-Ups und Squats bis mir die Muskeln brannten und alles zitterte. Dann ging ich raus, die frische Frühlingsluft und die singenden Vögel belebten mich, befreiten mich. Ich lief Stunden durch den Wald, bergauf und ab, ging durch die Straßen, suchte Treppen. Ich lief und lief bis es spät abends war, das Abendessen natürlich verpasste ich ganz bewusst.
Ständig "verschlief" ich das Essen, war nicht zuhause, hatte "keinen Hunger" oder war zu beschäftigt und würde später etwas essen.
Doch in der Zeit, wo meine Kilos davonflogen, verabschiedeten sich auch meine Ehrlichkeit und mein gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Es kam kaum noch ein Satz aus meinem Mund, der die volle Wahrheit beinhaltete. Auch verbrachte ich zunehmend weniger Zeit mit meiner Familie, ich war eingeschlossen in meinem Zimmer oder war draußen um Kalorien zu verbrennen. Ich wäre gerne bei ihnen gewesen, doch ich hatte keine Zeit. Musste planen, mir neue Tipps holen, alles dokumentieren, dem Essen aus dem Weg gehen und auch die Kalorien ruhten nicht, also musste ich mich bewegen um sie zu verbrennen. Schließlich musste ich mindestens so viele Kalorien verbrauchen, wie ich zu mir nahm.
Doch meine Tricks waren gut und vermehrten sich beinahe täglich. Alles war es wert Kalorien zu verbrennen. So stand ich bei jeder Gelegenheit anstatt zu sitzen: auf dem Schulhof, in meinem
Zimmer, immer. Wenn ich doch sitzen musste, dann saß ich gerade, kerzengerade und das brachte mir sogar noch Lob ein. Nur die Wenigsten in meinem Alter bemühten sich gerade und anständig zu sitzen, ich tat es. Dabei blieb ich stets in Bewegung, ich wackelte mit deinen Beinen, spielte stilles Klavier mit meinen Fingern. Jede Bewegung verbrannte irgendwas. Ich konnte nicht anders, ich hatte diesen Bewegungsdrang und einen tickenden Kalorienzähler im Kopf, rund um die Uhr.
Mein Lügengebilde wuchs und wuchs. Ich nahm nach der Schule häufig Umwege, kam später nach Hause und berichtete von einem wunderbaren Essen bei McDonalds mit meiner Klasse und redete davon, wie viel ich gegessen hatte und dass ich nun natürlich keinen Hunger mehr hatte. Auch nahm ich ständig Lebensmittel, Süßigkeiten, ganze Mahlzeiten mit in mein Zimmer, aber nicht um sie zu essen, sondern damit meine Eltern dies dachten. Ich hatte sie Ewigkeiten vor mir stehen, lachte sie mit knurrendem Magen aus, denn ich war stärker, schließlich landeten sie unberührt in meinem Kinderzimmermüll. Ich trieb es soweit, dass ich mir freiwillig eine komplette Tiefkühlpizza machte, sie achtelte und belächelnd auch diese in meinem Papierkorb versteckte. Ich hätte in der Zeit ein ganzes Volk mit meinem weggeworfenem Essen versorgen können.
Ich stellte mich ständig auf die Probe, strapazierte meine Nerven und hatte Spaß dabei. So ging ich in Freistunden tatsächlich mit leerem Magen und vollem Geldbeutel mit einigen Jungs zu McDonalds und das Frühstück dort sah wirklich köstlich aus. Ich schaute allen zufrieden beim Essen zu, dieses fettige und zuckersüße Zeug. Immer wieder baten sie mir etwas an, wollten mir ebenfalls etwas kaufen. Doch ich lehnte dankend ab. Ich bestand die Mutprobe. Viele davon. Und auch wenn ich immer dünner wurde, fühlte ich mich stark wie ein Bär. Ich hatte so viel Disziplin und Selbstkontrolle, ich wollte mehr immer mehr. Mehr Erfolge, mehr Kontrolle, weniger Essen, weniger wiegen.
Die Sucht breitete sich in mir aus. Auf der Waage sank die Zahl stetig, doch ebenso stieg die Masse im Spiegel. Ich verstand es nicht. Drehte, wendete, krümmte mich vorm Spiegel, tastete meine Knochen ab, spürte sie, doch sah sie nicht. Ich wollte weniger und weniger sein, weniger essen.
Ich aß nichts mehr unbedacht. Jedes Lebensmittel hatte seinen Grund, seine Wirkung. Sauerkraut, schmeckte nicht, aber entwässerte mich. Ebenso wie Reis eine entwässernde Wirkung haben sollte, allerdings aufgrund der Kalorien nur in kleinen Mengen zu verzehren war. Tomaten und Erdbeeren verbrauchten laut Internet mehr Kalorien bei der Verdauung als sie besaßen. Ananas kurbelte aufgrund ihrer Säure die Fettverbrennung an, spürbar, denn selbst die Schleimhäute im Mund brannten. Gefrorene Beeren, denn die Kälte verbrannte ebenfalls Kalorien. So war alles durchdacht. Durchdacht, durchplant und stets berechnet. Spontanität war aus meinem Leben gestrichen.
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Zart wie eine Feder - Ana oder Recovery (Reload)
Teen FictionEin Buch voller Gefühle, Angst, Kämpfe und Schmerz. Alison ist 18 und ringt seit 4 Jahren mit Magersucht, zwischen Rückblicken und Zukunftsträumen, Kämpfen und Aufgeben, Freude und Trauer begleitet euch das Buch durch ihr Leben. Das Buch beruht auf...