Ana oder Recovery

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Vor ein paar Wochen hatte ich mich entschieden zu recovern, gegen Ana anzuessen, anzukämpfen, ihr zu trotzen. Doch sie hatte immer die Oberhand. Umso stärker man gegen sie kämpft, desto lauter und aggressiver wird sie. Sie zwang mich auf die Knie, schrie mich für jede Kalorie an, erniedrigte mich, tobte in mir wie eine Bestie und drang mich zum Sport bis meine Glieder zitterten. Sie entstellte mich, verzerrte und erdrückte mich. Jede Kraft, jede Hoffnung und jeden Mut nahm sie mir sekündlich ein Stück mehr. Sie plagte mich mit schlechtem Gewissen, jammerte über mein Versagen und schrie als wäre ich das Widerlichste dieser Welt. Jede Sekunde war sie in meinem Kopf und krallte sich an mir fest.

Sie zog mich immer wieder in ihren Bann. Ich aß, um nicht aufzugeben, 700 oder 800 Kalorien am Tag. Doch dann peinigte sie mich zum Sport und ich verbrannte es wieder. Ich fastete oder fraß, trieb Sport oder schlief. Mein Gewicht sank und stieg und sank und stieg und derweil hatte ich so panische Angst vor der Waage, dass ich sie tagelang nicht mal angeschaut hatte. Ich mied sie. Doch damit machte ich Ana nur noch wütender. Ich sollte auf die Waage, musste auf die Waage. Ich sollte sehen wie ich versagte, wie ich fett und schwer wurde, wie ich mich nicht mehr kontrollierte, wie ich wieder Rundungen bekam.

Als wäre jeder Blick in den Spiegel oder an meinem Körper hinab nicht schon Folter genug gewesen. Bei jedem Schritt schwabbelten meine Beine, mein Bauch hing mühevoll über die Hose und alles andere dehnte sich ebenfalls aus. Überall nur fett, so dass ich mich schämte.

Ich wusste nicht mehr, ob Ana mich es so sehen und fühlen ließ oder ob es wahr war. Eigentlich wusste ich gar nichts mehr. Ob ich noch die Kraft hatte zu recovern, zwischen all der Depression, oder ob ich sie einfach gewinnen lassen sollte, sie gab mir immerhin Halt in all der Trauer in meinem Leben. Und ich musste schon oft erfahren: ich kann tausende Kämpfe gegen sie führen, gegen die Stimmen in mir, die Krankheit in mir, es ist egal was ich mache, zum Schluss verliere immer ich. Jedes Mal.

Da fällt mir ein passendes Zitat aus dem Buch "Hello Paris" ein: "(...) oder die Stimme des Tyrannen in mir ertragen musste. Sie benügte sich nicht mehr damit, allein zu flüstern, sie sprach nun mit vielen Stimmen im Chor, im Kanon. Manchmal plagten sie mich, manchmal aber wiegten sie mich, schläferten mich ein, suggerierten mir Sicherheit und Wohlbefinden. Sie überfielen mich bei einem Gang durch die Stadt, auf meinem Weg (...) zur Schule. Und sie leierten ständig dasselbe herunter: Du bist eine Betrügerin. Du hast deinen Freund, den Hunger, verraten, du willst den vernichten, der dich liebt und dir wohlige Schmerzen zufügt. Du wirst erst Ruhe finden, wenn du Abbitte leistest (...)"

Diese Zeilen waren wahr. So wahr, dass ich fast an ihnen zerbrach. Die Stimmen überfielen mich in jeglichen Situationen, schrien mich an und beschimpften mich oder versprachen mir das Schönste der Welt, umhüllten mich. Ich glaube nach meinem Vater war es erstmalig die Essstörung, die ich für derart manipulativ und durchtrieben hielt, dass sie jeden in ihren Bann ziehen könnte. Doch das tut sie nicht. Sie ist heimtückisch und wählt ihre Opfer gut durchdacht, sie berührt nur wenige Mädchen mit ihrer Schönheit und Leichtigkeit, nimmt sie ein, frisst sie auf. Sie ist Engel und Teufel vereint.

Jede Sekunde in der ich recovert hatte wurde Ana stärker und zog mich langsam und sicher wieder in ihre Gewalt. Bevor ich versucht hatte zu recovern, lag mein Zielgewicht bei 42,5kg. Doch seitdem ich mehr gegessen hatte, hatten sich meine Gedanken verändert, Ana hatte sie verändert. "40kg wäre ein wunderschönes Gewicht, stell dir vor wie hübsch und leicht du wärst. 40kg, die Kontrolle über dich selbst, klingt das nicht wunderbar" - "40kg... du wärst so nah dran, eine 3 vor deinem Gewicht zu haben. 39kg!!! 39kg, stell dir das mal vor, Liebes! Das wäre unglaublich. So wenig hast du ewig nicht gewogen, da du schon ein dickes Kind warst. Das wäre traumhaft, gar unglaublich. Wie diszipliniert und kontrolliert du wärst. Jeder würde dir den größten Respekt erweisen."

In der Zeit, in der ich mich vollfraß und Ana trotzte, legte sie mir solche Worte in den Kopf, wenn sie mal nicht vor Wut schrie. Und damit saß ich da, wurde dicker und dicker und träumte von leichten 39kg, wie ich leicht wie eine Feder schwebe würde, jedem Bedürfnis nach Essen trotzen könnte, stark, frei, leicht und diszipliniert wäre. Die Gedanken lockten mich, erfreuten mich, reizten mich.

Doch wenn ich, wie nach jedem Essen, vorm Spiegel stand, traf mich die Wahrheit wie ein Blitz, soweit es die Wahrheit und nicht ebenfalls Anas Werk war. Ich war Lichtjahre von den 39kg entfernt, es würde Jahrzehnte dauern diese bewundernswerte Zahl zu erreichen. Ich sah aus wie ein Monster!!! Wie ein dickes, ekelhaftes, unkontrolliertes Monster. Mondgesicht, Doppelkind, Bauch so aufgebläht und vollgefressen als wäre ich schwanger gewesen, meine Beine so schwabbelig und stampfig wie von einem adipösen Elefanten. Selbst meine Finger waren dicke Würste. Ich schaute abartig aus, als hätte ich mindestens das 6 fache von meinem Traum gewogen. Es triggerte, so wahnsinnig, dass ich das Gefühl hatte verrückt zu werden.

Immer wieder stellte ich mir dieselben Fragen: Will ich recovern oder will ich Kontrolle? Will ich sterben oder leben? Will ich essen oder fasten? Will ich träumen oder erleben? Ist Übergewicht nicht genauso schlimm wie Untergewicht? Sollte ich nicht das tun, wobei ich mich wohler fühle? Was ich besser kann?

Doch auf keine meiner Fragen wusste ich eine Antwort, auf jeden Fall keine standfeste dauerhafte Antwort. Ich wusste nicht was ich will. Schon so lange nicht mehr.

Zart wie eine Feder - Ana oder Recovery (Reload)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt