2 - Immernacht

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Für eine Weile stand Theron einfach nur da und blickte von den mittleren Stufen der Pyramide auf die Ebene. Dort wuchsen aus dem sandigen Erdboden kniehohe Büsche, die im fahlen Licht der Sterne wie dunkelgrüne Farbtupfer erschienen. Wenn der Nachtwind allzu stark an ihnen riss, konnte es sein, dass sich einer von ihnen löste und munter hüpfend in die Ferne davonrollte. Sonst allerdings war es ruhig auf der Steppe. Weit und breit ließ sich kein Lebewesen erkennen. Die Pyramide lag fernab aller offenen Quellen, was erklärte, dass sich keine Tiere hierher verirrten.

Als Theron sich sattgesehen hatte, machte er sich daran, vorsichtig die Stufen der Außenmauer hinabzuklettern. Es war ein langer Abstieg von der Handwerkerebene bis zum Boden. Je tiefer er gelangte, desto größer wurden die Abstände zwischen zwei Stufen. Bald musste er sein Gepäck fallenlassen, um sich mit beiden Händen festhalten zu können. Die letzte Stufe befand sich fast drei Meter über der Erde. Theron wägte kurz seine Möglichkeiten ab (springen, zurück gehen, bis in alle Ewigkeit hier stehen bleiben), dann tat er einen beherzten Satz und hoffte dabei, dass die Büsche seinen Sturz auffangen würden. Sie taten es nicht, und Theron fiel hart auf einen Haufen Steine, den das Gestrüpp verborgen hatte. Als er sich aufrichtete und nach seinem Bündel greifen wollte, bemerkte er, dass es sich bei den weißen Dingen auf dem Boden nicht wie zuerst angenommen um Steine handelte. Dafür waren die Brocken zu groß und zu regelmäßig geformt. Er hob einen davon auf und drehte ihn um, damit er ihn näher besehen konnte.

Aus dem Stein starrten ihn die schwarzen Augenhöhlen eines Skeletts an. Erschrocken ließ Theron den Schädel auf den Haufen seiner Kameraden fallen, von dem er laut klappernd hinabrollte und schließlich mit offenem Mund zum Stehen kam. Als Theron sich einige Schritte von seinem Fund entfernte, stieß er auf weitere Knochen und Schädel. Es handelte sich zweifelsohne um die Überreste von Menschen. Aus der Pyramide konnten sie nicht stammen. Wenn jemand aus der Gemeinschaft starb, wurde sein weltlicher Körper mumifiziert und so für das Jenseits aufbewahrt. Nie würde er wilden Tieren überlassen. Diese Knochen aber waren absolut sauber, wie abgenagt, doch ohne Bissspuren. Die Menschen mussten demzufolge von außerhalb stammen. Waren das Reste einer Karawane, die verzweifelt versucht hatte, in die Pyramide einzudringen, und die dann jämmerlich verdurstet war? Oder Grabräuber, wie sie besonders im fernen Mors häufig anzutreffen sind? Von diesen abenteuerlustigen Gesellen hatte Theron gelesen. Sie brachen in die Ruinen des untergegangenen Kaiserreichs ein. Die geschickten und klugen kehrten daraus mit Edelsteinen, Gold- oder Silberschmuck zurück. Die unerfahrenen dagegen wurden nicht selten von der einstürzenden Decke lebendig begraben. Es schien durchaus möglich, dass es eine Gruppe dieser Glücksritter in den Westen verschlagen und diese der Anblick der goldüberzogenen Pyramide gereizt hatte. Dennoch wies nichts darauf hin, warum sie hier im Freien ihr Leben lassen mussten.

›Ich darf nicht versuchen, alle Mysterien dieser Welt zu lösen‹, dachte Theron. ›Sonst komme ich nie vom Fleck.‹ Also wandte er sich von den ewiggrinsenden Schädeln ab, schulterte sein Bündel, und marschierte geradewegs auf den Wald zu, der sich als einziger markanter Punkt am Horizont abzeichnete.

Diesen Wald erkor Theron zum ersten Ziel seiner Reise; einer Reise, die ihn in quer durch eine unbekannte Welt führen sollte, von der er dreizehn Jahre seines Lebens abgeschnitten gewesen war. Vielleicht bist auch du schon, geneigter Leser, in andere Länder gereist und hast andere Kulturen kennengelernt. Doch so fremd dir auch Sprache und Bräuche dort vorgekommen sein mögen, wirst du vielem begegnet sein, das dir aus deinem Alltag vertraut ist, ohne das auch nur in irgend einer Weise bemerkenswert zu finden: Fenster, Straßen, Bargeld, Vögel, Blumen... Was in deinen Ohren banal klingen mag, sollte Theron noch hunderttausendfach in kindliches Staunen versetzen. Seine Reise würde ihn viele Lektionen lehren. Dazu zählten schon einfache Naturgesetze, wie die Tatsache, dass sich Objekte verkleinerten, wenn man sich von ihnen entfernte. Die größte Entfernung, die Theron bisher gesehen hatte, war von der einen Seite des Speisesaals bis zur anderen, und so schätzte er die Distanz zum Wald völlig falsch ein. Erst hier draußen lernte er, was es hieß, wenn in seinen Abenteuerromanen von ›zwei Tagesmärschen‹ die Rede war. Auf dem Papier brauchte man bloß mit den Augen zum nächsten Satz springen, eine Bewegung von wenigen Millimetern, und in der Geschichte durchquerten die Helden derweil mehrere Talkessel. In Wirklichkeit bedeutete dies allerdings stundenlanges, anstrengendes Wandern. Ab der fünften Meile brannten Therons Knöchel, ab der sechsten wurden seine Glieder schwer wie Blei, und mit der siebten beschlich ihn schließlich eine solch einnehmende Müdigkeit, dass er dort, wo er gerade ging, zusammenklappte und in einen tiefen Schlaf fiel.

[PAUSIERT] Der goldene KäfigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt