1 - Die Flucht

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Theron hatte noch nie in seinem Leben die Sonne gesehen. Sicher, er kannte die Abbildungen aus den Büchern, von denen er so viele wie möglich verschlang, bis ihn Fredericus, der Bibliothekar, jedesmal bei Anbruch der Sperrstunde hochkant rauswarf. Die Gesangsgruppe, an der sich Theron mit großer Freude beteiligte, trug sogar den Namen ›Sonnenchoral‹. Auch zierte die linke Schulter seiner Jacke aus einfachem braunen Stoff ein Emblem, das Sonne und Mond zeigte. Daher glaubte Theron, dass die Sonne ein runder Ball war, von dem dünne Linien in alle Richtungen ausgingen. Aber noch nie hatte er diese Strahlen auf seiner Haut gespürt, in den Sternenhimmel geblickt oder einen Berg bestiegen, war noch nie in einem See geschwommen oder auf einen Baum geklettert. Er kannte weder Regen noch Sturm noch Gewitter. Das hatte einen einfachen Grund: Von Geburt an lebte Theron eingesperrt in der Goldenen Pyramide.

Und er war der einzige Bewohner, der darüber nicht glücklich war.

Die Goldene Pyramide war ein riesiges Bauwerk aus Sandstein, dessen Wände mit Gold überzogen waren, von Innen und von Außen. Es gab keinen einzigen Weg hinein – und auch keinen einzigen hinaus. Darin wohnten auf sieben Stockwerken rund zweihundert Menschen. In der Basis befanden sich die Felder, die wie alle Gänge von einem fluoreszierendem Pilz beleuchtet wurden und dadurch Zuckerrüben und Getreide auch ohne Sonne gedeihen konnten. Darüber lag der große Speisesaal, in dem die Bewohner ihre Mahlzeiten einnahmen und über ihr Tagwerk plauderten. Die übrigen Stockwerke wurden von Schlafkammern, Werkstätten, Aufenthaltsräumen und der Bibliothek in Anspruch genommen. Hier verbrachte Theron den größten Teil seiner Freizeit. Er war meist der einzige Anwesende, aber das machte ihm nichts aus, denn so konnte er ungestört in den Sachbüchern und Ritterromanen schmökern. Sie stammten nicht aus der Pyramide, sondern stellten seine einzige Verbindung zur Außenwelt dar. Hier las er von tollkühnen Recken in strahlenden Rüstungen, weisen Elfen und furchteinflößenden Drachen. Schon mit neun hatte Theron alle Bücher vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchgelesen, denn Nachschub an Lesestoff gab es keinen. Seine Lieblingsgeschichte, ›Der Aufstand der Sproi‹, hatte er so oft ausgeliehen, dass der Bibliothekar Fredericus nur wegen ihm eine größere Stempelkarte auf die Innenseite des Einbands kleben musste. Dabei hatte er kopfschüttelnd gebrummt: »Was findest du nur an dieser grauenhaften Geschichte? Ich konnte nach zwölf Seiten nicht mehr weiterlesen. Wer kommt bloß auf die absurde Idee, aus der sicheren Gemeinschaft fliehen zu wollen?«

Er verstand Therons Wunsch nicht, die weite Welt zu sehen. Niemand verstand ihn. Als im Unterricht die Städte des Planeten zur Sprache kamen, hatte er seinen Lehrer gefragt, was für Wesen darin lebten und was für Berufen sie nachgingen. Der hatte ihn nur verständnislos angeglotzt und gesagt: »Warum fragst du? Glaub mir, in der Prüfung kommen nur die Namen der Hauptstädte dran.«

Daraufhin hatte Theron geantwortet: »Vielleicht werde ich die Städte einmal besuchen, und dann muss ich vorbereitet sein.«

Der Lehrer hob eine Augenbraue. »Aber dazu müsstest du ja nach draußen!«

»Das will ich ja!« sagte Theron trotzig. »Was für eine verrückte Idee!« rief der Lehrer glucksend aus, und die gesamte Klasse verfiel in schallendes Gelächter. Seitdem hielten ihn seine Altersgenossen für verrückt, gingen ihm aus dem Weg und tuschelten hinter seinem Rücken über ihn.

Es war keineswegs der Fall, dass es den Bewohnern der Pyramide verboten wurde, diese zu verlassen. Aber schon der Gedanke daran erschien ihnen so widernatürlich, dass Theron nach dem Vorfall im Klassenzimmer erst einmal zum Kopfdoktor geschickt wurde. Da er sich wenig einsichtig zeigte, musste er fortan jede Woche dort erscheinen und sich von Doktor Jung als Perversling beschimpfen lassen, weil er ihm von seiner Sehnsucht nach Freiheit erzählte. Manchmal trieb es Theron absichtlich zu weit und breitete genüsslich seine Fantasien aus, die vom Duft der Wälder und Auen und der Unendlichkeit des Universums handelten. Dann wurde Doktor Jung kreidebleich, stotterte »Du b-bist k-krank!« und ließ ihn zu Therapiezwecken für mehrere Stunden ans Bett fesseln. Er ahnte natürlich nicht, dass diese Maßnahme Theron erst Recht in seinem Wunsch nach Freiheit bestärkte.

[PAUSIERT] Der goldene KäfigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt