4 - Charon, Hrymir, Mahaf

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Nach dieser seltsamen Begegnung war Theron umso mehr neugierig darauf, was für Abenteuer ihn in Zukunft erwarten würden. Beschwingt brach er sogleich auf, ohne sich nach links und rechts umzuschauen, und marschierte in Richtung Berge. Dort oben sollte laut seiner Karte die kleine Berggemeinde Sedid liegen, und dahinter begann Ferth, das Land, in dem die meisten Menschen dieser Welt lebten.

Am Fuße des Berges endete auch die Vegetation. Theron musste den Kopf weit in den Nacken zurückbeugen, um den Gipfel erkennen zu können, auf den die heftigen Winde dieser Gegend nach mehreren Jahrtausenden wie Schmirgelpapier eingewirkt hatten, und der so ein zerklüftetes breites Felsplateau geworden war. Darüber kreisten drei Vögel, die sich gegen die Sonne nur als schwarze Silhouetten abhoben. Von hier an ging es einen schmalen Pfad viele hundert Meter steil nach oben, immer dicht an den grauen Felswänden entlang. Ein Ende ließ sich nicht absehen, da der Weg auf die Rückseite des Berges führte. Langsam und mit gleichmäßigen Schritten begann Theron den Aufstieg.

Nach mehreren Stunden, die er so den schmalen Pfad bewanderte, die Ausläufer des Gebirges immer vor Augen, gelangte Theron an eine Kehre, in die jemand grobe Treppenstufen gehauen hatte. Hier drehte er sich das erste Mal um – und presste sich sogleich unwillkürlich an die Wand hinter ihm. Wenige Handbreit weit entfernt ging es jäh in den Abgrund, viele hundert Meter steil nach unten. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und es schnürte ihm die Luft zu. Er befürchtete, durch eigene Tollpatschigkeit ausrutschen zu können und in der Folge in die Tiefe zu stürzen. Die Höhenangst lähmte ihn, und so blieb er dicht an den Felsen gedrängt stehen, unfähig auch nur einen Schritt weiter zu tun.

»Beeindruckende Aussicht, oder?« krächzte es da von irgendwoher. Theron sah sich vorsichtig um, ohne den Kontakt mit dem Berg zu verlieren. Auf dem Weg, von dem er gekommen war, konnte er niemanden erkennen.

»Hier oben!« rief eine zweite Stimme, heller als die erste, aber genauso rauh und brüchig. Therons Blick wanderte die Felswand entlang in Richtung Gipfel: Auf einem schmalen Vorsprung hoch über ihm saßen drei Geier und glotzten ihn an.

»Habt ihr gerufen?« brüllte Theron nach oben. Seine Stimme zitterte vor Angst.

Die Geier nickten zeitgleich. Dann breiteten sie ihre Schwingen aus und segelten in einem weiten Bogen herab, um schließlich auf den Treppenstufen zu landen. Dort saßen die drei hintereinander, einer größer als der andere. Mit ihrer Halskrause aus Federn und dem strengen Blick, den sie über ihre krummen Schnäbel auf Theron richteten, sahen sie wie Adelige aus.

»Ich bin Mahaf«, sagte der kleinste.
»Ich bin Hrymir«, sagte der mittlere.
»Ich bin Charon«, sagte der größte.

»A-angenehm« stotterte Theron. »Ich bin Theron.«

»Du wunderst dich sicher, warum wir deine Sprache sprechen«, sagte Charon. Theron nickte.

»Ja, das hören wir oft«, seufzte Charon und er rollte genervt mit den Augen. »Die Leute glauben, nur weil wir Aasgeier sind, würden wir keine Manieren besitzen. Dabei sprechen wir nicht weniger als vierzehn verschiedene Sprachen.«

»Die meisten der Sprachen sind natürlich tot«, merkte Hrymir an. Sie verfielen in ein meckerndes Lachen und hoben und senkten dabei ruckartig ihre langen Hälse. Aasgeierhumor.

»Aber auch die schönen Künste sind uns nicht fremd. Hrymir und ich erschaffen Knochenskulpturen, und Mahaf arbeitet zur Zeit an seinem Falsett. Möchtest du eine Kostprobe?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, stimmte Mahaf, der kleinste Geier, eine tragische Arie an, wobei er den linken Flügel theatralisch wie ein Opernsänger auf der Bühne abspreizte. Mahaf kreischte die schiefen Töne lauthals heraus und wurde dabei immer höher. Unten im Tal suchten schon die ersten Vogelschwärme rasch das Weite. Theron hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, aber er traute sich nicht, die Handflächen von der Felswand zu nehmen. »Ich glaube es euch«, sagte er hastig.

[PAUSIERT] Der goldene KäfigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt