3 - Das Narratem

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Nach Minuten der Hatz über Stock und Stein, die ihm wie eine halbe Ewigkeit erschienen, kam Theron endlich völlig außer Atem auf einer Lichtung zum Stehen. Keuchend stützte er sich mit seinen flachen Händen auf einen umgestürzten Baumstamm, auf dem glitschiges Moos wucherte. Er sah nach oben, ins grelle Sonnenlicht, an das sich seine Augen immer noch nicht ganz gewöhnt hatten. Waren seine Verfolger ihm noch auf den Fersen? Angstvoll lauschte er ins Dickicht. Zuerst hörte er nur sein eigenes Herz schlagen, doch dann vernahm Theron das vielstimmige Konzert der Tiere des Dschungels: Hunderte Zikaden schnarrten ein blechernes Stakkato, Singvögel trällerten fragend und antworteten zwitschernd, Klagekröten seufzten ihr Paarungslied, das wie »Hu-Ha« klang und gern von unbedarften Wanderern mit der Stimme eines Menschen verwechselt wurde, und Elwetritsche klopften im Takt mit ihren Schnäbeln gegen das Holz.

Die Dschinn, die mit dieser Geräuschkulisse von Kindesohren an aufwuchsen, nahmen davon meist gar keine Notiz mehr. Nur die fahrenden Händler beklagten sich nach einer schlaflosen Nacht beim Wirt, und ernteten dafür nur verständnisloses Kopfschütteln. Auf Theron allerdings, der sein bisheriges Leben in geradezu klösterlicher Stille verbracht hatte, machte der ununterbrochene Lärm großen Eindruck, und es fiel ihm schwer, die Töne voneinander zu trennen. Dennoch glaubte er, nicht länger das Stampfen der mechanischen Wächter zu vernehmen. Erschöpft nahm er auf dem Baumstamm Platz und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Er holte die Feldflasche aus seinem Säcklein und trank daraus mit großen Schlucken. Den Plan, seine Vorräte in Immernacht aufzustocken, konnte er erstmal an den Nagel hängen. Hoffentlich erwiesen sich die weiteren Dörfer auf dem Weg nach Ferth-Stadt als gastfreundlicher. Auf alle Fälle würde er in Zukunft vorsichtiger sein müssen. Wer weiß, welches Volk ihn noch an die Wächter der Pyramide verraten würde? Sicherheitshalber schnitt er mit seinem Messer das Emblem der Pyramide aus dem Schulterteil seiner Jacke. Den Stofffetzen stopfte er in eine Jackentasche. Zwar verband er mit diesem Symbol keine schönen Erinnerungen, doch er wollte seine Herkunft nicht verleugnen – zumindest nicht sich selbst gegenüber.

»Ich würde den Fetzen ja an deiner Stelle verbrennen«, quiekte da eine Stimme so unerwartet, dass Theron vor Schreck über den Stamm nach hinten abrutschte und im Matsch landete. Als er sich wieder aufgerichtet hatte und sich nach dem Urheber des Ratschlags umsah, erblickte er im Unterholz ein seltsames Wesen, das sich aus verschiedenen Tieren zusammensetzte. Es besaß die Größe, Statur und den Kopf eines Mopses, doch der runde Rumpf war mit winzigen Schuppen wie bei einem Gürteltier übersät. Das Tier watschelte mit seinen breiten Entenfüßen auf die Lichtung, wobei ein kleiner Ringelschwanz am Hintern wippte. Es glich keiner Beschreibung aus Therons Büchern, und er lachte innerlich ob des grotesken Anblicks.

»Ich bin nicht ›grotesk‹!« schimpfte das Wesen und schüttelte heftig mit dem Kopf, wobei seine Hundeohren wild schlackerten.

»Aber ich habe doch gar nichts gesagt«, protestierte Theron.

Die Chimäre rollte mit den Augen. »Ich habe doch nicht dich gemeint, sondern deinen Autor.«

»Meinen Autor? Was meinst du damit?«

Das Wesen näherte sich ihm, und Theron nahm eine Abwehrhaltung ein, die sich jedoch als unbegründet erwies. Das Tier wollte es sich bloß auch auf dem Baumstamm bequem machen. Nach einigen Verrenkungen gelang es ihm schließlich, mit den Vorderfüßen zuerst auf den Stamm zu krabbeln und sich auf den Hintern zu setzen, wobei es peinlich darauf achtete, nicht aus Versehen den Ringelschwanz einzuklemmen. Dann sah es Theron an und verkündete im feierlichen Ton: »Von dir wird einmal ein Buch handeln, Junge! Diese Ehre wird nicht jedem zuteil, Gratulation! Wobei du mir schon ein wenig Leid tust. Dein Autor ist ein ziemlicher Dilletant. – Der kann ja nicht mal das Wort ›Dilettant‹ richtig schreiben.«

Theron blinzelte das hässliche Wesen mit einer Mischung aus Zweifel und Neugier an. »Wieso sollte jemand über mich schreiben? Ich bin doch nur ein Niemand.«

»Papperlapapp! Du weißt doch selbst am Besten, dass das nicht stimmt. Du hast in den letzten drei Tagen mehr erlebt als manch einer in seinem ganzen Leben. Und das war erst die Exposition! Dir stehen noch fantastische Abenteuer bevor!«

»Ach, woher willst du das schon wissen«, meinte Theron und errötete.

»Und ob ich das tue, das liegt in meiner Natur! Ich bin ein Narratem, wir haben eine Nase für solche Dinge. Ich sehe auf einen Blick, ob jemand nur zur Fußnote taugt oder eines Epos' würdig ist. Sei gewiss, dein Leben bietet genug Stoff für einen Roman, oder vielleicht auch zwei. Hängt ganz davon ab, ob dieser Buchstabenquäler eine vernünftigen Handlung auf die Reihe bekommt. Aber wenn ich da so bei dir vorausblättere, liest sich das doch eher banal.«

Das Narratem plusterte sich vor Stolz auf, wobei das keinen großen Unterschied machte, da das Tier schon vorher wie ein fettes, vollgefressenes Schwein ausgesehen... »Ach halt doch die Schnauze!« bellte das Narratem. Theron sah sich nach allen Seiten um, aber konnte niemanden erkennen, den es gemeint haben könnte. Dann sprach er: »Du kannst in meine Zukunft sehen? Bitte, sage mir, was mir bevorsteht! Werde ich den Brief erfolgreich zustellen?«

»Vergiss doch den blöden Brief, das ist nur ein MacGuffin. Du wirst Geschichte schreiben! Das Schicksal Ferths bestimmen! Rächer der Armen, Schrecken der Reichen! Solche Sachen.«

»Ich bin also bloß ein Auserwählter...« Theron sah enttäuscht zu Boden. Er kannte Geschichten zu Genüge, in denen der Held aufgrund irgendeiner uralten Prophezeihung dazu bestimmt war, die Welt zu retten. Es gab nichts langweiligeres als einen strahlenden Ritter, dem ohne Anstrengung der Pfad zum Sieg geebnet wurde.

Das Narratem stupste ihn ärgerlich mit der Schnauze an. »Auserwählter, Schmauserwählter! Jeder ist seines Glückes Schmied. Ich sehe ja nur eine mögliche Version deiner Geschichte. Du kannst sie immer noch grundlegend verändern, zum Beispiel, indem du meinen Rat befolgst und das Emblem vernichtest. Wirst du das tun?«

»Nein.«

»Dachte ich mir. Aber schieb mir nicht später auf Seite 112 die Schuld in die Schuhe, wenn du deine Entscheidung bereust. Ich habe dich gewarnt.«

»Seite 112? Wann ist das denn?« Er konnte nicht glauben, dass es über ihn mehr als drei Seiten zu erzählen gab.

»Das merkst du dann schon, außer dein Autor gibt auf, bevor es soweit ist, was ihm sehr ähnlich sähe. Dann verschwindet dein Buch in der Schublade der unvollendeten Werke und gerät in Vergessenheit.«

»Aber was geschieht dann mit mir?« Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Therons Bauch aus.

Das Narratem lachte quiekend, ein albernes Lachen, das zu seinem kindischen Verstand passte. »Keine Angst, Junge, du löst dich schon nicht auf. Deine Geschichte geht dann ungeschrieben weiter. Vielleicht übernimmt auch jemand mit echtem Talent die Erzählung.« Dann sprang es auf die vier Füße und hob den Kopf. »Ich muss dann auch schon wieder. Die nächste Figur stammt aus einer griechischen Tragödie, da darf ich nicht zu spät kommen. Hat mich aber sehr gefreut, dich kennen gelernt zu haben. Nur eins noch«, raunte es, »denn wir wollen es diesem beschreibungsfaulen Stümper doch nicht zu leicht machen, oder? Wenn du also einmal von Leuten in ein Dorf geschickt wirst, dann sieh dir jeden Winkel ganz genau an.«

»Aber ist das nicht furchtbar langweilig zu lesen?« wandte Theron ein.

Das Tier zwinkerte ihm zu. »Das ist ja dann nicht dein Problem, oder?«

Mit diesen Worten trottete es davon. Sein nächstes Ziel führte das Wesen in die felsige Vulkanlandschaft von Sengglas, wo es bedauerlicherweise am Rande einer Klippe vom Weg abkommen sollte und einen qualvollen Tod in heißer Lava finden würde, ein Schicksal, das alle kleinen, vorlauten Narrateme ereilte, die ihre Zungen nicht im Zaum halten konnten.

[PAUSIERT] Der goldene KäfigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt